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223 - Die Sünden des Sohnes

223 - Die Sünden des Sohnes

Titel: 223 - Die Sünden des Sohnes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Zybell
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mit langem dunklen Haar stand über einer unförmigen Gestalt, die sich vor ihm am Boden hin und her warf, die sich wand, aufbäumte, zusammenkrümmte.
    Die schreiende Frau.
    Breitbeinig stand der Mann da und streckte die Arme aus, als könnte er ihr auf diese Weise Schmerzen zufügen. Die Frau schrie so spitz, dass es Nefertari durch und durch ging. In was war sie eingehüllt? Was machte der Mann mit ihr? Nefertari begriff nichts.
    Daa’tan…!
    Aruula begriff alles.
    »Das ist dein Sohn?«, lallte Nefertari mit schwerer Zunge. Der Mann vorn an der Trage sah sich nach ihr um. Aruula reagierte nicht. Sie igelte sich in ihrem mentalen Kokon ein. Nur nicht dieses Geschrei hören müssen! Nur nicht erfahren, was Daa’tan mit dieser Frau anstellte! Wie konnte er nur einem anderen Menschen solche Schmerzen zufügen?
    Das Geschrei blieb zurück. Die Männer mit der Trage stiegen eine Vortreppe hinauf. Andere Schwarzhäutige, ebenfalls mit Federbüschen auf den Köpfen und Faustfeuerwaffen in den Hüftgurten, öffneten ihnen eine schwere Tür. Man trug Nefertari in ein prachtvolles Foyer, dann eine breite, geschwungene Treppe hinauf, über eine Zimmerflucht und schließlich durch eine weitere Tür in einen schlauchartigen Raum.
    Nefertari erkannte eine Insektenlampe an der Wand, sie sah Herdstellen, zu denen dicke Rohre führten, Regale voller Kochgeschirr, offene Schränke mit Töpfen, und sie sah Menschen. Viele trugen bunte Fräcke und elegante Kleider. Einige weinten, einer hatte weiße Haut.
    Sie spürte, wie die Träger sie auf dem Boden absetzten und von der Trage wälzten. Sie hörte, wie die Träger den Raum verließen und die Tür hinter sich zuwarfen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss.
    Getuschel erhob sich um sie herum, Männer und Frauen gingen neben ihr in die Hocke. Eine dunkelhaarige, füllige Frau machte ein besorgtes Gesicht.
    Jemand beugte sich über sie, ein Mann. Sein langes graues Haar rutschte ihm von den Schultern ins Gesicht und berührte Nefertaris Wange. Aus seinem rechten Auge musterte er sie. Im Schneeweiß seines linken Auges brach sich der Lampenschein. Nefertari blinzelte, sah ein zweites Mal hin und erkannte, dass es ein totes Auge war. Sie sah ein drittes Mal hin, und dann, von einem Augenblick auf den anderen, spürte sie es…
    ***
    Weg von der Brennkammer, so weit wie möglich weg aus der Nähe des Dampfkessels – das waren nach dem Treffer seine ersten Gedanken gewesen.
    Rulfan stürzte zum Kartentisch, hielt sich fest, wurde von den Pendelbewegungen zurückgeschleudert und stürzte, als die Gondel sich beinahe überschlug, gegen die Wand neben der Luke. Alles Weitere ging so schnell, dass er im Nachhinein Mühe hatte, die Puzzlestücke seiner Erinnerung zu einem sinnvollen Bild zusammen zu setzen. Irgendwie versuchte er Aruula festzuhalten, irgendwie war ihm Chira im Weg, und dann schlug die Gondel auch schon auf dem nur noch halb gefüllten Ballon auf. Rulfan flog und flog, und nur Wudan wusste, wo er landen würde.
    Für kurze Zeit schwanden ihm die Sinne, und als er wieder zu sich kam, saß er jedenfalls nicht an Wudans Festtafel, so viel stand fest. Er hatte nämlich Schmerzen und empfand eine unterschwellige, bohrende Angst. Nichts also, was er einst an Wudans Tafel zu erleben hoffte.
    Den Kopf drehen konnte er kaum, also ließ er seine Augäpfel kreisen: Er hing in einem Gestrüpp aus Bambussprossen, jungen Akazien und Dornenranken fest. An zahllosen Stellen seines Körpers stach und brannte es – die Dornen hatten seine Haut durchlöchert. Eine Zeitlang wagte Rulfan nicht, sich zu rühren. So musste sich auch Matt gefühlt haben, als er am Uluru von Daa’tans Dornenranken eingesponnen wurde.
    Der Rauch, der unter ihm aus dem Wald aufstieg, raubte ihm schier den Atem. Schüsse explodierten dort unten. Rulfan schaffte es, die rechte Hand samt Unterarm aus dem Gestrüpp zu lösen. So konnte er sich die Lederweste vor den Mund pressen. Er hustete so leise wie möglich ins Leder. Schwarze Krieger kletterten nicht weit an ihm vorbei und in das Wäldchen zehn, elf Meter unter ihm hinunter. Immerhin verschafften sie ihm eine gewisse Orientierung: Er musste, wohl im Gestrüpp am Trägerballon von Wimereux-à-l’Hauteur hängen.
    Der Abend dämmerte, die Krieger löschten das Feuer, in der Stadt schrie ein Mann wie ein Tier in Todesnot, im Wäldchen unten sah er Maddrax und Chira Richtung See schleichen. Er konnte sich nicht bemerkbar machen, sonst hätte die Feuerwehr mit den

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