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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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...«
    »Sondern?«, fragt der Ortsgruppenleiter, der langsam wieder aus seiner Schreckstarre erwacht.
    »Betrachten Sie das als Befehl.«
    »Was ist, wenn ich mich weigere?«, gibt Urban noch nicht auf.
    »Das wissen Sie doch – dann werde ich Sie den Russen in ein paar Tagen als in höchstem Maße unkooperativ melden, was die Aufklärung des Massakers betrifft. In Sibirien ...«
    »Sie brauchen nicht weiterzusprechen, ich verstehe voll und ganz«, antwortet Urban.
    »Es geht um das Überleben von uns allen, von ganz Persenbeug, also strengen Sie sich gefälligst an!«, meint der Revierinspektor.
    »Sonst noch etwas?«, erkundigt sich der Ortsgruppenleiter.
    »Sie dürfen abtreten und Ihre Leute zusammentrommeln.«
    Urban dreht sich um, wobei er übertrieben die Hacken zusammenschlägt, und ist auch schon aus dem Büro des Oberbürgermeisters verschwunden.
    Der hat die ganze Szene mit ungläubigem Staunen, ja Entsetzen verfolgt und wird jetzt vom Revierinspektor ins Visier genommen, der den Karabiner noch immer wie einen Rammstock in beiden Händen hält. »Gefragt ist jetzt ein würdiges Grab für die Opfer. Das Grundstück wird die Gemeinde zur Verfügung stellen. Auch eine hübsche Einfriedung wäre angebracht, eine Art Zaun. Die Bestattung wird morgen um 10 Uhr beginnen. Meinetwegen spannen Sie die Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiter hier im Ort ein.« Dann fragt er noch nach: »Haben Sie das verstanden?«
    »Ja«, antwortet der Oberbürgermeister.
    »Es geht um den Ort. Ein ordentliches Grab – das gibt vielleicht ein paar Gutpunkte bei den Russen.«
    »Ja«, antwortet Maier, und er hat das Gefühl, dass mit einem Mal sein ganzes Vokabular auf dieses eine Wort zusammengeschrumpft ist.
    »Dann ist es ja gut«, meint der Revierinspektor und wundert sich ein bisschen, dass ihm von den beiden Funktionsträgern nicht mehr Widerstand entgegengesetzt worden ist.
    Jetzt, wo auch der Führer im Kampf gefallen ist, denkt der Oberbürgermeister, was soll ich denn da noch machen?
    Als Erster kommt der Zimmermann Karl Brandstetter zur Zeugenaussage auf den Posten. Was bleibt mir verdammt noch einmal anderes übrig, denkt er, vor meinem Haus liegen mehr Leichen als beim Röhm-Putsch, zum Teil halb verbrannt und noch immer glosend. Ich muss das doch melden, so etwas kann man nicht mehr unter den Teppich kehren, da ist kein Teppich der Welt groß genug dafür. Überall in Hofamt Priel rennen die Gendarmen herum, um Zeugen aufzustöbern, denkt er weiter, die Sache ist ernst, mehr als ernst. Kein einziger Gendarm, fällt Karl Brandstetter sofort auf, ist in dem großen, allgemeinen Dienstzimmer anzutreffen, obwohl es im Posten eine Luft zum Schneiden hat. Auch der Duchkowitsch ist offenbar nicht da, der Kommandant. Merkwürdig ist auch, dass die ansonsten penibel versperrten und gesicherten Gewehrkästen ausgeräumt sind, allesamt leer, und die Glastüren der Kästen sperrangelweit offen stehen. 64 Jahre, denkt Karl Brandstetter, musste ich werden, um so etwas zu erleben, so einen Schmarren!
    Der Zimmermann muss ein paar Minuten stehend warten, während der Revierinspektor offenbar im Büro des Postenkommandanten telefoniert. Brandstetter erkennt die Stimme, weil er kürzlich im Rahmen eines Nachbarschaftsstreits, der ihn nicht allzu viel anging, mit dem Gendarmen persönlich zu tun hatte. Er konzentriert sich darauf, von den Gesprächsfetzen, die zu ihm dringen, ja nichts zu verstehen. Er weiß vielleicht schon zu viel, ja viel zu viel, mehr als ihm gut tut. Sprüche Salomonis, denkt er, viel wissen heißt viel leiden.
    Als der Revierinspektor endlich sein Gespräch beendet hat und im vorderen, großen Dienstzimmer erscheint, trägt er einen Karabiner über der Schulter. Außerdem fällt dem Wartenden bei näherem Hinsehen auf, dass sein Pistolenhalfter nicht zugeknöpft ist. 64 Jahre, denkt Brandstetter wieder, habe ich werden müssen ...
    Die beiden ungleichen Männer grüßen einander nicht und verständigen sich wortlos. Der Gendarm geleitet den Zimmermann aus Hofamt Priel in sein Büro. Dort, in dem relativ kleinen Dienstzimmer, weist er dem Brandstetter mit einem Handzeichen einen alten Holzsessel zu und verschwindet hinter seinem wuchtigen, altdeutschen Schreibtisch. Der schmucklose Raum ist dem Zimmermann sofort unsympathisch, und den Hitler an der Wand mag er eigentlich auch nicht mehr sehen. Der Feigling, denkt er, hat sich umgebracht, und ich steh’ da mit all den Leichen vor meiner Haustür. Und dann geht

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