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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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unter dem Bildnis des toten Reichskanzlers und dem klebrigen Fliegenfänger, der von der Decke herabhängt, alles sehr rasch. Zuerst wird Brandstetter nach dem so genannten Nationale gefragt. Karl Brandstetter, Zimmermann, geboren 12. 9. 1880 in Dorfstetten, Kreis Melk, Niederdonau, zuständig nach Hofamt Priel, Kreis Melk, Niederdonau, wohnhaft in Hofamt Priel, Nr. 147, in der Rotte Priel, Kreis Melk, Niederdonau, deutscher Staatsbürger, verheiratet, 11 Kinder im Alter von 13 bis 37 Jahren, Ehegatte der Marie, geborene Scheibreithner. Wie gehabt schreibt der Revierinspektor alles mit, mit Bleistift in Druckbuchstaben auf einen großen Bogen alten Konzeptpapiers. Die Frage nach einer etwaigen Mitgliedschaft in der NSDAP verneint Brandstetter, es bestehe auch kein Wehrverhältnis, was wollen Sie, Herr Revierinspektor, mit 64 Jahren.
    Zur Sache gibt Karl Brandstetter an, dass er ungefähr um Mitternacht gehört habe, wie vor seinem Haus Autos vorgefahren seien. Kurz darauf habe er Schüsse und Schreie gehört. Er sei vom Bett aufgestanden und zur Haustür gegangen. Durch ein Guckloch in der Tür habe er hinaus gesehen.
    »Sie sind nicht hinausgegangen?«, fragt Revierinspektor Winkler.
    »Nein, davor hätte ich viel zu viel Angst gehabt«, antwortet Brandstetter und fragt sich, ob denn der Kieberer den Schritt in die Hölle gewagt hätte.
    »Was haben Sie gesehen?«
    »2 Autos vor meinem Haus. Und etwas abseits davon sind 5 oder 6 Leute gestanden und haben geschossen. Immer wieder.«
    »SS oder Wehrmacht?«
    »Es war zu finster, um das zu erkennen.«
    »Was ist dann passiert, Brandstetter?«
    »Na, die Leute sind in ihre Autos gestiegen und wieder gefahren.«
    »Und dann?«
    »Ich bin wieder zurück ins Bett gegangen, aber viel geschlafen habe ich nicht mehr, eigentlich gar nichts. In aller Herrgottsfrüh, gleich als es licht geworden ist, bin ich aufgestanden. In der Nähe meines Hauses ist ein Haufen Tote gelegen. Die haben teilweise noch gebrannt. Rauch und Gestank. Mir wird jetzt noch schlecht, wenn ich daran denke.«
    Das alles sagt Karl Brandstetter. Es gibt aber auch so manches, was er partout nicht sagen will. Weil er ja, denkt er, nicht blöd ist und sowieso schon mehr weiß, als ihm vielleicht gut tut, weil er sowieso schon, ohne es zu wollen, zu viel, viel zu viel weiß. Zum Beispiel, dass in der Nacht des Massakers keine 150 Schritte hinter seinem Haus, im Lahnhof, eine Kartenpartie stattgefunden hat. Bauernschnapsen mit doppeldeutschen Eichelkarten. Auch Volkssturmmänner, ehemalige Wachen vom Judenlager, und ein paar Honoratioren waren regelmäßig mit von der Partie. Die Teilnehmer mussten ja für ihren wöchentlichen Kartentipplertermin an seinem Haus vorbei, der Weg von ihm zum Lahnhof steigt leicht an. Spät ist es geworden am gestrigen Kartenabend, bis in die Nacht wurden die Karten gedroschen, nur als vor seinem Häuschen die Knallerei losgegangen ist, hat sich oben im Lahnhof keiner gerührt. Alles mucksmäuschenstill. Keiner ist nachschauen gekommen, denkt der Zimmermann, was da los ist. Haben die gar gewusst, was passieren wird? Und den Graben, in den die SS die Juden hineingeschossen hat, kennt jeder der Schnapserbrüder, den Graben vor seinem Haus und die beiden anderen. Der Zimmermann ertappt sich bei dem Gedanken, was das alles bedeuten könnte. Lieber die Goschen halten, denkt er, das ist im Endeffekt sicherlich gesünder. Im Magen hat er ein Gefühl wie von verfaulten, sauren Erdäpfeln.
    »Mal abseits des Protokolls gefragt«, meint Revierinspektor Winkler mehr zu sich selbst als zu dem Zeugen, der sich im Moment nichts sehnlicher wünscht, als dass diese Vernehmung schon vorüber wäre: »Haben Sie gelöscht? Haben Sie die Leichen gelöscht?«
    Kaum hat Karl Brandstetter mit ruhiger Hand seine Unterschrift unter das von Revierinspektor Winkler getippte Vernehmungsprotokoll gesetzt, das er zweimal langsam und ganz durchgelesen hat, wird diesem bewusst, wie unendlich müde und ausgehungert er eigentlich ist. Ein Bier und eine Schnitte Leberkäse wären jetzt wirklich das Größte, das Höchste der Gefühle, denkt er, aber andererseits geht es hier vielleicht um seinen Kopf und um den aller Persenbeuger, und Alkohol im Dienst, das hat es bei ihm sowieso noch nie gegeben.
    Nachdem der Brandstetter den Posten verlassen hat, bleibt Revierinspektor Winkler müde hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er breitet alle heute von ihm angefertigten Protokolle samt Durchschlägen vor sich aus und liest

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