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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
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Wurzeltreppe. Matt und Aruula folgten ihr. Über eine Strickleiter bestiegen sie den Baumriesen und erreichten die Plattform einer großen Hütte.
    Sie wurden von weinenden Männern und Frauen begrüßt. Thik lag schluchzend in den Armen eines alten Mannes mit schlohweißen Haaren. Doch Matts Blicke hingen an den Schädeln und Knochen, die den Eingang der Baumhütte schmückten. Sie stammten von Menschen! Ein ungutes Gefühl kroch ihm in die Magengegend. Und als er feststellte, dass die gesamte Hütte mit diesen Schädeln und Knochen gespickt war, wurde ihm regelrecht schlecht.
    Kannibalen!, fuhr es ihm durch den Kopf.
    ***
    April 1998, Cam, Südvietnam
    Lann Than saß auf der kleinen Veranda seines Hauses. Obwohl dies ein besonderer Tag für ihn werden sollte, starrte er düster auf seine Füße. Albträume hatten ihn immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Sie wiederholten die Schreckensbilder von seinem letzten Tag im S-21 am 7. Januar 1979.
    Damals standen die wiedervereinigten vietnamesischen Truppen vor den Toren Phnom Penhs. Wie der Maler es sich gedacht hatte, ordnete King Leuk, der Leiter des S-21, die Liquidierung sämtlicher Gefangenen an. Die Zellentüren wurden aufgerissen und man trieb die Überlebenden des Folterzentrums in den Hof. Wie durch ein Wunder gelang es Lann Than, mit sechs weiteren Gefangenen unbemerkt in einen Kellertrakt zu fliehen.
    Während sie sich in einer der Folterkammern versteckten, hörten sie von draußen die Maschinengewehrsalven und die Schreie der Sterbenden. Es vergingen Stunden, bis es endlich still wurde. Und noch viele weitere, die sie reglos in der Folterkammer verbrachten. Keiner wagte sich nach draußen. Der Maler konnte heute nicht mehr sagen, wovor er sich damals mehr gefürchtet hatte; vor den Folterknechten, die noch irgendwo lauern könnten, oder vor dem Anblick, der sich ihnen in dem Hof zeigen würde.
    Als die vietnamesischen Befreier sie fanden, blieb den sieben Überlebenden der Anblick schließlich doch nicht erspart. Weit über zweitausend Gefangene waren der Massenhinrichtung zum Opfer gefallen. Lann Than konnte sich nie wirklich über seine Rettung freuen.
    Das alles lag nun neunzehn Jahre zurück, und dennoch schien es ihm, als wäre es gestern gewesen. Auch sein Wiedersehen mit Thik Gieng schien erst gestern gewesen zu sein. Er hatte seine Frau einen Monat nach seiner Befreiung in Krachéh wieder gefunden. Als er zur Mittagszeit die Tür ihrer Hütte öffnete, saß sie am Tisch, als ob sie ihn erwartet hätte. Zwei Teller dampfende Suppe und ein Laib Brot standen bereit.
    »Setz dich!«, hatte sie ihn aufgefordert. Schlohweiße Haare umrahmten ihr hohlwangiges Gesicht. Ein fremdes Gesicht, wie Lann damals fand. Erst als es dunkel wurde, begannen sie zu sprechen, und als der Morgen dämmerte, lagen sie sich weinend in den Armen. Sie weinten aus Freude, weil sie sich wieder hatten und aus Trauer um ihre Söhne, die das Schreckensregime der Angkar nicht überlebt hatten. Danach sprachen sie nie mehr über das, was ihnen widerfahren war.
    Der Maler strich sich müde über das Gesicht. Vier Jahre blieben sie in Krachéh. Vier Jahre, in denen Thik Gieng zwei Söhnen das Leben schenkte. Sie nannten den Erstgeborenen Suon Than und den Jüngeren Duon Than. Vier Jahre, in denen sie versuchten zu vergessen und mit dem Trauma zurechtkommen, wie all die anderen in Kambodscha auch.
    Jeder, der gesund und kräftig genug war, stürzte sich in die Arbeit. Die Wirtschaftstätigkeit wurde in den Städten wieder aufgenommen. Schulen, Krankenhäuser und Banken wurden wieder geöffnet. Da aber Lehrer, Händler und beinahe die gesamte intellektuelle Elite des Landes von der Angkar ermordet worden war, wurden die entsprechenden Posten von Vietnamesen übernommen. Und von Mitgliedern der Roten Khmer! Ein unerträglicher Zustand für Lann Than.
    Er bekam Schweißausbrüche, wenn er Stiefelschritte hörte oder jemand die Stimme erhob. Er bekam Angstzustände, wenn Thik Gieng und seine Söhne länger als vereinbart ausblieben. Zum Leidwesen seiner Frau verlangte er, dass in der Familie und über die Familie nur noch französisch gesprochen wurde. Er wollte vermeiden, dass seine Kinder verstanden wurden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit miteinander unterhielten.
    Die ständige Lebensmittelknappheit und die Nachricht, dass Pol Pot mit seinen Roten Khmer, Prinz Sihanouk und anderen Gruppierungen eine Exilregierung in Kuala Lumpur gebildet hatte, gab der Familie den Rest: Die meisten

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