226 - Das Schädeldorf
Hände.
Der Führer der Angkar sah ihn fragend an. Lann Than wagte zwar nicht aufzuschauen, doch er spitzte die Ohren. Er hörte Pol Pot seufzen. »Du hast Recht! Wir müssen uns erst einmal um die Vietnamesen kümmern. Gibt es schon Neues über die Bewegung ihrer Truppenverbände?«
Der Adjutant räusperte sich. »Sie haben sich die Grenzgebiete zurückerobert und sind auf dem Vormarsch ins Landesinnere!«
Lann Than stockte der Atem. Ein Angriff der Vietnamesen? Eine Befreiungsaktion? Zum ersten Mal, seit er im S-21 war, spürte er so etwas wie Hoffnung. Doch sie verpuffte sofort wieder. Sollten die Soldaten des Nachbarlandes tatsächlich erfolgreich sein, würden weder Pol Pot noch der Gefängnisleiter King Leuk auch nur einen Augenblick zögern, unliebsame Zeugen ihrer Gräueltaten aus dem Weg zu räumen.
Während er darüber nachdachte, entging ihm der Blick, den Bruder Nr. 1 ihm zuwarf. Erst dessen Gebrüll ließ Lann Than merken, dass er Pol Pot die ganze Zeit angestarrt hatte. »Was glotzt du so! Hast du nichts dazu gelernt?« Mit fuchtelnder Kanone stampfte er herbei. Obwohl Lann Than wusste, dass das Magazin leer war, zog er den Kopf ein. Schon hob Bruder Nr. 1 den Arm, um den Maler zu prügeln. Doch als er das Bild sah, das Lann von ihm gemalt hatte, ließ er die Hand wieder sinken. »Ah, wie ich sehe, ist hier einer, der etwas von meinem Wesen begriffen hat.« Er deutete auf die schwarzen Kleckse über dem Reisfeld. »Selbst bei einem nahenden Taifun gibt der Führer der Angkar nicht auf!«
***
September 2524, Mekong-Delta, Vietnam
Matt hätte nicht im Traum daran gedacht, noch einmal an die Stelle zurückzukehren, an der er nur knapp den Angriff des Warans und der Riesengarnelen überlebt hatte. Aber hier war er nun. Gemeinsam mit Aruula und dem Kind, die vor ihm im Dingi saßen.
Als Aruula ihm die Kleine nach seiner Rückkehr aus dem Mangrovenwald präsentiert hatte, wusste er gleich, dass sie zu den Wilden in den Bäumen gehörte, die ihm gestern hier das Leben gerettet hatten: Sie trug die gleichen weißen Gesichtszeichnungen und dieselbe Hautfärbung.
Sie hatten beschlossen, nicht nach dem Erdloch, und der toten Mutter zu suchen, die Aruula in den Gedanken von Thik gesehen hatte, sondern sie nach Hause zu bringen. Zumindest hofften sie, dass hier ihr Zuhause war.
Matt schaute sich suchend um. Weder wilde Tiere, noch die Wilden in den Bäumen waren zu sehen. Dafür begann vor ihm das Mädchen zu krähen. »Là! Là! Porte, Porte!« Ihre kleine Hand deutete auf ein turmhohes Gestrüpp zwischen zwei Baumstämmen rechts von ihnen. Aruula wandte sich lachend um. »Du hast Recht gehabt! Sie ist hier zu Hause.«
Matt lachte nicht. Er war nur erstaunt. Hatte er eben richtig gehört? Die ganze Zeit über hatte Aruula versucht, sich mit dem Mädchen in allen Dialekten, die sie kannte, zu verständigen. Wer hätte ahnen können, dass die Bewohner dieses gottverlassenen Ortes ausgerechnet französisch sprachen? Kopfschüttelnd paddelte er zu der angewiesenen Stelle. Noch während er sich fragte, wie sie wohl durch dieses undurchdringliche Gestrüpp gelangen sollten, öffnete es sich von ganz alleine.
Verblüfft starrte der Mann aus der Vergangenheit auf das von Laub getarnte Tor, das den Weg in einen kleinen Kanal freigab. Erst jetzt entdeckte er die Männer in den Bäumen. Zwei von ihnen zogen an dicken Seilen und lächelten ihnen zu. Als sie ein Stück weiter gepaddelt waren, schloss sich hinter ihnen das Tor, und vor ihnen bog sich ein großflächiges Kuppeldach aus Ästen und Laub über eine tunnelförmige Fahrrinne. Diese war gesäumt von eng stehenden Baumstämmen, an deren Fuß sich Wurzelformationen treppenartig um das untere Drittel der Bäume schlangen. Von da aus führten Stickleitern und verknotete Seile hinauf zu den Behausungen in den Baumkronen.
Die Bewohner des Mangrovendorfes saßen, standen oder hockten auf den Plattformen vor ihren Hütten. Seltsame Knack- und Schnalzgeräusche tönten aus ihren Kehlen. Dann wurde es wieder still. Nun völlig perplex, blickte Matt zu den Dorfbewohnern hoch. Es wurde immer bizarrer: Er hätte schwören können, dass er gerade die Sprache der Hydriten gehört hatte!
Vorne im Dingi sprang Thik aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Là, là!«, rief sie immerzu. »Mon grandperè!« Ihre kleine Hand deutete auf einen mächtigen Wurzelaufbau am Ende der Fahrrinne. Dort angekommen, sprang das Mädchen aus dem Boot und kletterte über die
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