226 - Das Schädeldorf
der Menschen, die sie noch mit Krachéh verbanden, flohen jetzt aus Kambodscha. Lann Than entschied sich daraufhin, mit seiner Familie nach Südvietnam zu gehen.
Inzwischen lebten sie in einer kleinen Stadt im Mekong-Delta, keine hundert Kilometer von Saigon entfernt. Sie betrieben ein Restaurant, das inzwischen bekannt für Thik Giengs Amoc war. Nebenher hatte Lann Than seine Arbeit als Maler wieder aufgenommen.
Immer wenn er glaubte, Kambodscha mit all den erlebten Schrecken hinter sich gelassen zu haben, holte es ihn wieder ein: In seinen Träumen, in den Medien, die über Schauprozesse gegen die Anführer der Angkar berichteten, und in den Briefen, die er über Jahre von der neuen Regierungsspitze Kambodschas erhielt. Sie wollte, dass Lann Than ein Mahnmal erstellte. Zum Gedenken an die dreißigtausend, die im Folterzentrum ermordet wurden.
Irgendwann hatte er ihrer Bitte nachgegeben. Begonnen hatte er noch nicht mit dieser Arbeit, doch das Material lagerte in der Nähe ihres Hauses in einer alten Scheune: Tausende Schädel und Knochen ermordeter Kambodschaner. Es gab oft Streit deswegen mit Thik Gieng. »Wozu haben wir Kambodscha verlassen, wenn du das Grauen der Roten Khmer in unser neues Zuhause holst!«, schimpfte sie. Lann Than verteidigte sich, dass die Überreste der Ermordeten nicht einfach in der Erde verscharrt werden durften, und versprach, mit seiner Arbeit bald zu beginnen.
Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, welches Grauen in der Küche ihres gemeinsamen Restaurants wartete? Sie durfte es niemals erfahren.
***
In der Küche seines Restaurants wurde Lann Than bereits erwartet: Son Sann, ein Cousin seiner Frau, und Lib Tek, sein alter Freund aus Kampong Cham. Beide hatten die Arbeitslager überlebt und waren vor Jahren nach Vietnam gekommen. Auch sie lebten jetzt in der Nähe von Saigon. Mindestens einmal im Monat trafen sie sich mit Lann Than. Jetzt standen sie vor der glänzenden Anrichte, auf der ein großer Leinensack lag. Ihre Augen waren erwartungsvoll auf den Maler gerichtet. »Endlich ist es so weit!« Lib Tek blickte grimmig auf den Sack.
»Die Lieferanten warten vor der Tür«, warf Son Sann ein.
Lann nickte. »Gab es Probleme an der Grenze?«
»Keine!« Während Lib Tek die Fenster der Restaurantküche schloss und Son Sann die Türen verriegelte, näherte sich der Maler mit klopfendem Herzen der Anrichte. »Er bewegt sich gar nicht!«
»Gerade eben war er noch sehr lebendig!« Lib Tek kam an seine Seite und reichte Lann ein großes Küchenmesser.
Fast zögerlich zerschnitt der Maler das Seil. Was um alles in der Welt machen wir hier eigentlich?, fragte er sich. Vielleicht war ihr Vorhaben doch ein Fehler. Doch als die Gestalt von Pol Pot aus dem geöffneten Sack schnellte, wusste er wieder, warum er alle erdenklichen Hebel in Gang gesetzt und viel Geld in die Taschen korrupter Beamter hatte fließen lassen, um diesen Mann hierher zu holen.
»Ich verlange eine Erklärung!«, brüllte Bruder Nr. 1. »Ich verlange, dass man mich sofort in mein Gefängnis nach Phnom Penh zurück bringt!«
In einer Mischung aus Furcht und Verblüffung starrten ihn die drei Männer an. Er war kleiner, als Lann Than ihn in Erinnerung hatte. Ohne Uniform sah er aus wie einer der Fischhändler vom Wochenmarkt. Er war blass, hatte dunkle Ringe unter den Augen, und seine Haare hingen ihm wirr um den Kopf. Dieses Männchen sollte der Anführer der Angkar sein?
Der Maler brauchte einen Augenblick, sich wieder zu vergegenwärtigen, dass Pol Pot und seine Schlächter über zwei Millionen Menschenleben auf dem Gewissen hatten. Ein ganzes Land hatten sie in Leid und Elend gestürzt. Und es gelang ihnen immer noch, Lann Than in seinen Träumen zu verfolgen.
»Ich will essen!«, hörte er Pol Pot schreien. »Gebt mir was zu essen und dann schafft mich zurück nach Phnom Penh!«
Lib Tek löste sich aus seiner Starre. Wie von Sinnen rannte er in der Küche umher. Er griff nach einem Teller und machte sich am Abfalleimer zu schaffen. Schließlich knallte er einen mit Fischköpfen beladenen Teller vor Pol Pot. »Hier! Das soll deine Henkersmahlzeit sein!«
Verblüfft glotzte Pol Pot abwechselnd vom Teller auf die umstehenden Männer. Sein Blick heftete sich auf Lann Than. »Ich kenne dich!« Sein dünner Zeigefinger flatterte vor dem Gesicht des Malers. »Sag diesen Männern, wer ich bin und, dass sie mich in Ruhe lassen sollen!«
»Mir braucht niemand zu sagen, wer du bist! Ich weiß es genau!«,
Weitere Kostenlose Bücher