226 - Das Schädeldorf
um die verbliebenen Lecks im Schiff zu schließen. Wahrscheinlich hatte der Seher inzwischen seine Zimmererarbeiten beendet, und vielleicht war auch Maddrax schon zurückgekehrt. Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über das Gesicht der Barbarin. Seit er wieder an ihrer Seite war, verblassten die schmerzhaften Erlebnisse der vergangenen Monate.
Aruula verließ den schmalen Uferstreifen und gelangte über eine Böschung zu dem Pfad, der sie hierher gebracht hatte. Er war gesäumt mit Büschen, die sie um eine Kopflänge überragten. Leuchtend rote Blüten in der Form kleiner Glocken prangten zwischen den fleischigen Blättern. Aruula hatte solche noch niemals gesehen. Sie blieb stehen, um sie sich näher anzuschauen. Plötzlich hörte sie ein zartes Niesen aus dem Strauch.
Vorsichtig bog sie die Zweige der Büsche auseinander – und staunte: Auf dem Boden kauerte ein kleines Kind. Ein Mädchen in gelbem Shirt und roten Hosen. Aus großen Augen starrte es ängstlich zu Aruula hoch. Sein kleines Gesicht war mit seltsamen weißen Zeichen bemalt und zwei Schmutzschlieren zogen sich über seine Wangen. Sein kleiner Körper bebte vor Angst. So sehr, dass sogar die schwarzen Haarzöpfe zitterten.
»Komm her zu mir! Du musst keine Angst haben.« Die Barbarin streckte ihm ihre Hand entgegen.
Das Kind griff danach und ließ sich aus dem Gebüsch ziehen. Wie ein Häufchen Elend stand es vor Aruula. Jetzt rollten ihm Tränen über die Wangen und es bohrte seine nackten Zehen in die Erde. Die Barbarin schaute sich suchend um und lauschte, doch niemand war in der Nähe, zu dem das Kind gehörte. Sie ging vor dem Mädchen in die Hocke und streichelte ihm behutsam die Tränen aus dem Gesicht. »Wie ist dein Name?«, fragte sie.
Das Kind hörte auf zu schluchzen und blickte sie aufmerksam an. Vermutlich sprach sie nicht ihre Sprache. Aruula legte sich eine Hand auf die Brust und nannte dabei ihren eigenen Namen. Dann tippte sie der Kleinen auf die Brust. Das Mädchen verstand. »Thik.« Sie flüsterte es fast und schaute zu Boden. Aruula versuchte geduldig mit Zeichensprache und in allen Dialekten, die sie kannte, herauszufinden, wohin das Kind gehörte und wie es hierher gekommen war. Doch vergeblich. Schließlich lauschte sie in den Gedanken der Kleinen.
Die Kopfbilder von Thik waren wenig aufschlussreich. Sie bestaunte die blauen und grünen Linien auf Aruulas Körper und fragte sich, was der glänzende Schwertknauf hinter ihrer Schulter bedeutete. Außerdem schien sie hungrig zu sein: Gebratene Fische dampften über einem Feuer. Die Barbarin strich ihr über den Kopf. »Wo ist deine Mutter? Mama!«, fragte sie leise. Jetzt begann die Kleine wieder zu weinen und die Bilder veränderten sich.
Im diffusen Licht einer Höhle sah Aruula eine Frau. Ihr nackter Körper lag verkrümmt auf der Erde und ihre Augen waren aufgerissen und leer. Blut sickerte aus ihrer Kehle. Die Barbarin schluckte. Dunkle Gestalten huschten vorbei, Wesen mit hässlichen Masken und merkwürdigen glänzenden Schuppen an Brust und Armen. Kurz sah sie ein Erdloch und schließlich noch einmal die tote Frau.
Aruula hatte genug gesehen. Offensichtlich war die Mutter der Kleinen tot. Ermordet von vermeintlichen Monstern. Wann und wo, konnte sie nicht sagen, aber so ein kleines Mädchen überlebte wahrscheinlich nicht lange alleine in der Wildnis. Was hatte es mit diesem Erdloch auf sich? Könnte die Kleine sie dorthin führen?
Thik hatte inzwischen aufgehört zu weinen. Mit ausdruckslosen Augen starrte sie ins Leere. Ihr kleiner Körper zitterte wieder und ihre Finger lagen wie Vogelfedern in Aruulas Händen. Heute würde das Mädchen sie nirgends hinführen. Sie brauchte Wärme und Trost. Und etwas zu essen. Danach würde man weitersehen.
***
Oktober 1978, Phnom Penh, Kambodscha
Lann Thans Blick wanderte über den Galgen vor dem vergitterten Fenster zu dem elektrischen Stacheldraht hinüber, der den gesamten Komplex des S-21 umfasste. Als ob einer von uns noch die Kraft hätte zu fliehen, dachte Lann. Selbst die Außengänge, die die einzelnen dreistöckigen Gebäudeteile miteinander verbanden, waren mit Stacheldraht verhangen – um die Gefangenen daran zu hindern, Selbstmord zu begehen.
Seit er jeden Nachmittag in die Aula des ehemaligen Gymnasiums gebracht wurde, um mit anderen Künstlern Pol Pot zu porträtieren, wusste er mehr über sein Gefängnis, als ihm lieb war: Rund siebzehnhundert Personen arbeiteten im Folterzentrum. In den letzten
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