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226 - Das Schädeldorf

226 - Das Schädeldorf

Titel: 226 - Das Schädeldorf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mia Zorn
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brüllte Son Sann. »Du bist der Mörder meiner Eltern, meiner Schwestern und Brüder! Und heute wirst du sterben!«
    »Ha! Du hast überhaupt nichts verstanden, du Narr. Ich habe sie zu Helden gemacht, deine Leute! Sie sind zum Wohle des Volkes gestorben!« Er hatte kaum die letzten Worte ausgesprochen, als Lib Tek sich auf ihn stürzte, während Son Sann nach einem Fleischbeil suchte.
    »Was sagst du da? Was redest du?« Teks Finger legten sich wie ein Schraubstock um den Hals des gemeinen Mörders. »Meine kleinen Kinder sollen zum Wohl des Volkes gestorben sein? Du elender Hund!«
    »Lass mich ihm vorher die Zunge abhacken!« Son Sann versuchte sich mit dem glänzenden Beil Zugang zu verschaffen.
    Lann sprang dazwischen. Nur mit Mühe konnte er seine Freunde davon abhalten, Pol Pot zu massakrieren. Keuchend wichen sie zurück. »Warum tust du das? Willst du etwa sein Leben schonen?«, fragte Son.
    Der Maler schluckte. Nein, er wollte ihn nicht schonen. Doch der Aufruhr hatte ihn für einen Moment glauben lassen, er wäre wieder in einer der Folterkammern im S-21. Nervös strich er sich über das Gesicht. Was nur hatte er erwartet? Einen reumütigen Bruder Nr. 1, der vor Angst um Gnade winselte? Der demütig vor ihnen auf dem Fußboden kroch? Der zeigte, dass er nicht wert war, sich die Finger an ihm schmutzig zu machen? Lann Than war hin und her gerissen: Einerseits hätte er Pol Pot liebend gerne die Kehle aufgeschnitten, andererseits warnte der Quan’rill in ihm: Du sollst nicht töten! Gewalt ist Gift!
    »Er versteht einfach nicht, um was es geht!«, meldete sich in seinem Rücken Pol Pot. »Mir ist es gelungen, die Klassenunterschiede, die Wurzel aller Dekadenz, in unserem Lande zu beseitigen! Alle Menschen habe ich gleich gemacht! Ein paar Jahre mehr, und ich hätte unser Volk in eine blühende Zukunft geführt!« Er glitt von der Anrichte und baute sich vor Lann Than auf. »Ich habe mich nicht schuldig bekannt wie King Leuk, oder schlimmer noch, mich feige aus dem Leben gestohlen wie viele andere meiner Mitstreiter! Der größte Schandfleck überhaupt für die Angkar sind diese feigen Selbstmörder!«
    »Ist das so?« Lann Than beugte sein Gesicht ganz nahe an das seines Gegenübers. Er roch Pol Pots sauren Atem und bebte vor Zorn und Fassungslosigkeit. Das Messer in seiner Hand zitterte. »Legt ihn auf den Tisch!«, befahl er heiser. Er ging zu einem Schrank und riss eine Schublade nach der anderen heraus. Endlich fand er, was er gesucht hatte: die Vorräte an Thik Giengs Tabletten, die sie seit Jahren zur Beruhigung, zum Einschlafen oder gegen vermeintliche Schmerzen nahm. Mit fliegenden Fingern leerte er sie in einen Becher, zerstampfte sie mit einem Mörser und füllte den Becher zur Hälfte mit Wasser. Schließlich kehrte er zur Anrichte zurück.
    Während seine Freunde den protestierenden und zappelnden Pol Pot festhielten, schüttete Lann Than den tödlichen Trunk in den Schlund des Verhassten. »Man wird dich tot auf einer Lichtung finden, Pol Pot. Und man wird von dir sagen: Der feige Hund hat sich umgebracht. Ein Schandfleck für die Angkar.«
    Bruder Nr. 1 tobte und schrie, krümmte sich und röchelte. Lib Tek und Son Sann hielten ihn fest.
    Lann Than verließ das Haus. Er setzte sich neben die Scheune mit den Totengebeinen aus Kambodscha und weinte.
    Er würde nie mehr zu seinem Volk zurückkehren können: Er hatte mit seiner Tat den Kodex der Quan’rill verletzt. Mein gesamtes Wirken unter den Menschen ist vertan, dachte er. Es ist sinnlos geworden. Und er beschloss in seiner menschlichen Hülle zu sterben, wenn die Zeit gekommen war.
    ***
    September 2524, Mekong-Delta, Vietnam
    Matts Sorge stellte sich als unbegründet heraus: Sie waren nicht bei Kannibalen gelandet. Im Gegenteil handelte es sich bei den Baumleuten um ein friedliebendes Volk, das jegliche Form der Gewalt ablehnte. »Nur wenn wir angegriffen werden, wehren wir uns«, erklärte der Großvater von der kleinen Thik. Er war der Dorfoberste und hatte Aruula und Matt in seine Hütte eingeladen. Sein Name war Soon Than. Während mehrere Frauen den Gästen Früchte und gebratenen Fisch reichten, bedankte er sich bei dem Paar, dass es seine Enkelin zurückgebracht hatte.
    Sein bruchstückhaftes Französisch war für Matt gut zu verstehen, und so übersetzte er Aruula, was der Dorfoberste sagte.
    »Zu Beginn der Regenzeit im letzten Jahr starb schon mein Sohn dort draußen am großen Fluss. Und nun auch meine Schwiegertochter.« Der

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