226 - Das Schädeldorf
drei Jahren waren hier annähernd neunzehntausend Gefangene inhaftiert gewesen. Auch Mitglieder der Roten Khmer, die als Verräter galten.
Es war verpönt, die Gefangenen absichtlich zu töten. Wer die Folter überlebte, wurde vor die Tore des kleinen Ortes Choeung Ek gebracht und dort mit Schaufeln erschlagen. Um Munition zu sparen! Lann Than schluckte die aufsteigende Bitterkeit hinunter und ging wieder zu seiner Staffelei. Seit Tagen malte er an einer Landschaft mit Reisfeldern, in deren Mitte eine Männerfigur kniete. Sie steckte einen Setzling in die Erde. Die Figur hatte noch kein Gesicht. Das würde er heute malen, sobald Pol Pot eingetroffen war.
Bei dem Gedanken an Bruder Nr. 1, wie Pol Pot genannt werden wollte, begann der Pinsel in seiner Hand zu zittern. Nicht weil er sich fürchtete, sondern weil er hasste. Auch wenn er an diesen Nachmittagen etwas zum Anziehen, eine extra Ration Reis und sogar einen warmen Tee bekam, hasste er sie. Besonders, wenn der Führer der Roten Khmer persönlich anwesend war. Und obwohl das Töten von Menschen bei den Hydriten verpönt war, war Lann Than nur noch von dem einen Wunsch beseelt: den Diktator umzubringen.
In diesem Moment lärmte es am Eingang. »Eine Unverfrorenheit! Eine Verleumdung sondergleichen!«, hörte man von weitem Pol Pot brüllen. »Die Chinesen! Die Chinesen!«, schrie er, als er in die Aula stürmte, dicht gefolgt von seinem Adjutanten. Seine Stiefelabsätze knallten über den Fußboden, während er die Knöpfe seiner blauen Uniformjacke öffnete. »Wann wird die ausländische Presse endlich begreifen, dass wir China nicht brauchen, um unser Land in Freiheit und Unabhängigkeit zu führen!« Er hatte inzwischen das Podest in der Mitte der Aula erklommen und in dem Sessel aus blauem Plüsch Platz genommen.
Weder beachtete er die Gefangenen, noch den Wärter, der ihm ein Tablett mit Tee und Keksen auf das Podest stellte. Bruder Nr. 1 hatte nur Augen für die Zeitung, die zwischen seinen Fingern raschelte. »Hier steht, China stecke hinter unserem Regime und wir seien nur ein Vietcong-Ableger! Vietcong-Ableger !« Pol Pots Stimme überschlug sich. Außer sich vor Zorn zerriss er die Zeitung in tausend Fetzen. Einige davon stopfte er sich in den Mund, um sie kurz darauf angewidert auszuspucken. Gleichzeitig fiel sein Blick auf einen der Künstler, der ihn fassungslos anstarrte.
»Was gibt es da zu glotzen!« Pol Pot riss seine Pistole aus dem Holster und verschoss sein gesamtes Magazin auf den Elenden. Entsetzt beugten sich die anderen Maler noch tiefer über Staffelei oder Zeichenblocks. Auch Lann Than. Er hatte schon viele dieser Wutausbrüche von Bruder Nr. 1 erlebt. Aber so schlimm wie heute war es noch nie gewesen.
»Schafft ihn weg!«, befahl Pol Pot den Wärtern. Er sank in den Sessel und nippte an seiner Teetasse. Als er sie abgesetzt hatte, wandte er sich an seinen Adjutanten, der an den Rand des Podestes lehnte. »Die Ausländer haben keine Ahnung von den Fähigkeiten gewöhnlicher Bauern, die nur durch ihren Willen große Aufgaben bewältigen! Darin liegt die glorreiche Vergangenheit des historischen Khmer-Imperiums. Und wir haben sie wieder hergestellt! Das ist es, was die Welt nicht begreift!«
Der Adjutant nickte ihm eifrig zu. Plötzlich sprang Pol Pot auf. »Aber woher haben sie ihre Informationen?« Er deutete auf die herumliegenden Zeitungsschnipsel. »Spione! Verräter! Wir haben immer noch nicht alle Intellektuellen ausgemerzt!«, rief er.
»Ich versichere Ihnen, Bruder Nummer 1, keiner von ihnen ist mehr auf freiem Fuß. Jeder Gelehrte, jeder der mehr als eine Sprache spricht, und jeder, der lesen kann, ist inzwischen inhaftiert oder hingerichtet!« Der Adjutant hob beschwörend die Arme.
Pol Pot schaute den Untergebenen nachdenklich an. »Brillenträger!« Wie jemand, der einen genialen Einfall hat, klatschte er in die Hände. »Alles, was Brillen trägt, wird hingerichtet! Männer und Frauen. Los, los, mach eine Notiz und schick sie sämtlichen Kommandanten im ganzen Land!«
Einige der Maler warfen sich verstohlene Blicke zu. Lann Than tauchte seinen Pinsel in schwarze Farbe und drosch ihn auf sein Gemälde. Eines Tages wirst du für all deine grausamen Taten büßen!, dachte er.
Inzwischen war Pol Pots Adjutant auf das Podest gestiegen. »Bruder Nr. 1, das ist eine vortreffliche Idee, aber wir brauchen jetzt jeden Mann und jede Frau… ja, sogar jedes Kind, das Waffen tragen kann.« Verzweifelt rang er die
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