226 - Das Schädeldorf
die felsigen Wände zu malen. Schon hastete er weiter. Weder achtete er auf die Fragen seiner Söhne, noch auf die Ratten, die hin und wieder ihren Weg kreuzten.
Er war mit seinen Gedanken abgetaucht in längst vergangene Tage. Sog den vertrauten Geruch nach Moder und Feuchtigkeit in sich ein, wie seine Frau den Duft ihrer Rosen hinter dem Haus. Jeder Winkel, jeder Stein von dem Weg, den sie eingeschlagen hatten, erzählte ihm seine Geschichte. Die Geschichte von dem einstigen Leben Ytim’lens. Ein Leben, das er nie wieder führen würde.
Und dann war es so weit: Der eingeschlagene Weg endete vor der Wand, die für ihn einst die Tür in den Vorraum zum Himmel bedeutet hatte.
Mit klopfendem Herzen suchten seine Augen die kleine Wölbung auf den Steinen. Als er sie gefunden hatte, drückte er mit seiner flachen Hand dagegen. Geräuschlos klappte ein kleiner Kasten aus der Wand, nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Seine Finger zitterten, als er den Code eingab. Nach wenigen Sekunden glitt ein türgroßer Ausschnitt der Wand zischend zur Seite und gab den Weg in die geräumige Schleusenhalle frei.
***
Lann Than war inzwischen alleine in der Schleusenstation. Seine Söhne waren gegangen, um die Überlebenspakete zu holen. Er hatte ihnen erzählt, dass sein Vater einst als Meeresbiologe hier gearbeitet habe. »Hinter diesem Schleusentor dort war sein Labor.«
Eine Lüge! Eine von vielen in den vergangenen Jahren. So wie die, dass seine Schwester gestorben wäre. Oder die über die Hydritensprache, die er seinen Kindern und Enkelkindern als Geheimsprache beigebracht hatte. Der Maler schaute zu dem Tor aus bionetischer Masse hinüber; Richtig gelogen war das mit dem Labor nicht. Denn tatsächlich befand es sich dahinter. Nur dass es eben das Labor der Hydritenstation war und keines von Menschenhand erbautes.
Lann Than seufzte. Was spielte all das jetzt noch für eine Rolle? Hauptsache war doch, dass seine Familie hier in der bionetisch gewachsenen und damit extrem widerstandsfähigen Kammer in Sicherheit sein würde. Fast zärtlich strichen seine Finger über die hintere Schleusentür. Er wusste: Dahinter verbarg sich die Flutkammer mit einer weiteren Tür, die ins offene Meer führte. Wenn man direkt hinter ihr abtauchte, fand man am Meeresgrund den Eingang zur Transportröhre nach Karsi’signak.
»Ytim’len!«, erklang in seinem Rücken eine ihm wohlbekannte Stimme. »Wie geht es dir, Bruder?«
Er wagte es kaum sich umzudrehen, so ergriffen war er in diesem Augenblick. Ytim’len! Wie lange schon hatte ihn niemand mehr bei diesem Namen gerufen? »Mir geht es gut. Und wie geht es dir, Sevgil’im?« Seine Stimme klang belegt, als er in der Hydritensprache antwortete. Langsam drehte er sich um. »Du bist immer noch so schön wie damals!«
Sevgil’ims grüne Augen leuchteten ihm unter ihrer schuppigen Stirnwulst entgegen. »Das ist lange her, Ytim’len! Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dich noch einmal lebend wieder zu sehen! Und ich befürchte, auch jetzt werden wir nicht viel Zeit miteinander verbringen können. Denn deine Söhne werden bald zurückkehren, und es wäre nicht ratsam, wenn sie mich entdecken würden.« Mit diesen Worten kam die Hydritin zu ihm, und sie umarmten sich lange.
»Du hast uns also beobachtet?«, fragte er verlegen.
»Ja, ich und die anderen! Wir sind im Auftrag des HydRats hier, um die nahe gelegenen Waffenlagerstätten unschädlich zu machen. Meine Leute und ich haben mindestens noch fünf Depot-Zugänge zu versiegeln.«
Als Lann alarmiert an ihr vorbeischaute, lächelte sie. »Du hast nichts zu befürchten. Du bist einer von uns. Und es ist auch in Ordnung, dass du dich und deine Angehörigen hier vor dem Kometen in Sicherheit bringst. Nur die Forschungsstation kann ich euch nicht zur Verfügung stellen. Die äußere Code-Platine ist entfernt und das Labor bleibt versiegelt! Das dort gelagerte Material ist zu brisant.« Abschätzend schaute sie ihn an. »Wir arbeiten immer noch an der neuen Art Transportqualle. Du erinnerst dich?«
Lann Than nickte. O ja, er erinnerte sich. Nicht nur an die Qualle, auch an jedes einzelne Instrument in der Station, an die Gespräche, die sie geführt hatten, an seine Berichte über die Lungenatmer, an Sevgil’ims ernsten Gesichtsausdruck, wenn sie die Sicherheitssysteme der Station überprüfte. Und jetzt, da sie ihm so nahe war, er ihren vertrauten Knack- und Schnalzgeräuschen lauschte, erfüllte ihn eine hoffnungslose
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