226 - Das Schädeldorf
Sehnsucht nach Karsi’signak.
Sevgil’im strich ihm über die Wangen. Die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern schimmerten türkis im Licht der Planktonwände. »Nach dem Kometeneinschlag soll die Forschungsstätte neu besetzt werden«, sagte sie leise. »Wir werden uns wieder sehen, Ytim’len. Dann wirst du mir erzählen, was du erlebt hast!«
***
Februar 2012, Mekong-Delta, Südvietnam
Vor dem Zugang zur Schleusenkammer drängten sich die Menschen. Das Geheimnis war keines geblieben; nicht nur die Familien der Ehefrauen von Lanns Söhnen, sondern auch deren Familien und ganze Dorfgemeinschaften wollten in das Tunnelsystem. Das Bambusfeld um den Bunkereingang herum war in der Größe eines Fußballfeldes niedergetreten.
Während unten Suon Than mit seinen Schwägern die Belegung der unterirdischen Kammern und Höhlen organisierte, hielt oben sein Bruder die Stellung. Gemeinsam mit drei anderen Männern versuchte er das Gedränge vor dem Einstieg aufzulösen. »Einer nach dem anderen! Frauen und Kinder zuerst!«, rief er immerzu.
Doch die Menschen hielten sich nicht daran. Jeder wollte in den Tunnel. Wie eine Welle schwappte die Masse nach vorne. Duons Onkel, der gerade dabei war, einer Frau in den Einstieg zu helfen, wurde gestoßen. Mit einem Aufschrei stürzte er samt der Frau in den Schacht. Die Leute in den vorderen Reihen wichen erschrocken zurück. Dies wiederum führte hinter ihnen zu lautstarken Protesten.
Als dann Suon Than aus der Luke stieg und den Wartenden mitteilte, dass kein Platz mehr in den unterirdischen Schutzräumen sei, brach das Chaos erst richtig los.
Empörung und Wut machten sich Luft. Brüllend schoben sich die Leute vorwärts. Stoßend und schlagend kämpften sie um jeden Zentimeter, der sie dem rettenden Schutzraum näher brachte. Alte und Junge wurden niedergetrampelt, Kinder von ihren Müttern getrennt. Selbst die Warnschüsse, die das Brüderpaar und ihre Helfer am Einstieg abgaben, konnten den Mob nicht aufhalten. Nur wenige gaben es auf, nach vorne zu kommen. Sie wollten nur noch heraus aus der brodelnden Menge. Auf allen Vieren krochen sie aus dem Gedränge, um sich in Sicherheit zu bringen.
Abseits davon beobachtete Lann Than den Tumult in dem Bambusdschungel nur abwesend. Er dachte an die Schleusenhalle, in der seit Tagen bereits Thik Gieng mit ihren Angehörigen und denen der Söhne untergebracht waren. Sie konnten die Halle weder verlassen, noch konnte jemand zu ihnen hinein. Denn nur Lann Than war es möglich, die verborgene Tür zu öffnen. Und das war gut so!
Er dachte auch an seine letzte Begegnung mit Sevgil’im und an die Aufregung, die noch Tage danach unter den Militärs in dieser Gegend geherrscht hatte: Die Hydritin hatte mit ihren Leuten die Barriere zu dem unterirdischen Waffenlager durchbrochen und es mit bionetischem Material »geimpft«, das wild wuchernd die Waffen umschlossen und damit unschädlich gemacht hatte. Gleichzeitig blockierte die Versiegelung sämtliche Zugänge der Depots zum Tunnelsystem. Für die Soldaten ein Schock: Weder konnten sie sich die Herkunft der Masse erklären, noch, wie jemand in ihre streng bewachten Bunker gelangen konnte.
Schließlich war es die Ankunft des Kometen, die Lann Than aus seinen Gedanken riss: Plötzlich verfinsterte sich der Himmel. Auf einen Schlag verstummten die Stimmen von Mensch und Tier. Ein Sturm kam auf. Er fegte heulend über die Bambusstauden hinweg. Wie Streichhölzer knickten sie zu Boden. Ein Brausen und Tosen erfüllte die Luft, und die Menschen ließen sich jammernd auf die Erde fallen.
Lann Than stemmte sich gegen den Wind. Seine Blicke hefteten sich auf die schwarzen Wolkentürme, die der Sturm vor sich herjagte. Sie verbargen eine glühende Kugel, die Blitze und Feuer zur Erde schleuderte. Die schneller als der Sturm heran raste und schließlich in einem blendenden Licht den Wolkenmantel durchstieß: Wie eine Feuerfaust schnellte der Komet aus dem Himmel. Umgeben von brennenden Trümmerteilen raste er der Erde entgegen.
»Bei Ei’don!«, keuchte Lann Than und rannte los. Als er den schützenden Tunnel erreicht hatte, bebte die Erde und in der Ferne sah er Saigon in Flammen aufgehen. Und als er die Luke über sich geschlossen hatte, bohrte sich die Feuerfaust in das Herz des Asiatischen Kontinents.
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September 2524, Mekong-Delta, Vietnam
Yann beobachtete mit Unbehagen, wie sich erneut ein Unwetter zusammenbraute. Diesmal näherte es sich von Westen. »Dieses Land muss einen Fluch
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