228 - Crows Schatten
Augen war anzusehen, dass sie die halbe Nacht geweint hatte. »Alle sind so gut zu mir und den Kindern.« Scheu blickte sie auf. »Ich danke euch.«
»Danke dem HERRN, Margot.« Für das graue, sackartige Kleid, das sie trug, hatte wohl Yanna gesorgt. Es verhüllte sie vom Hals bis zu den Knöcheln. Brave Yanna! Dennoch zeichneten sich jetzt, da sie saß, ihre Schenkel und ihre Brüste unter dem Stoff ab. Über dem roten Haar trug sie ein schwarzes, lose unter dem Kinn geknotetes Tuch. »Wie geht es den Kindern?« Rev’rend Rage versuchte in ihr Gesicht zu schauen, und nur in ihr Gesicht.
»Sie haben unruhig geschlafen«, sagte Margot mit leiser Stimme. »Während des Frühstücks haben sie ein wenig gequengelt. Doch jetzt sind sie freiwillig mit dem jungen blonden Mann gegangen.«
»Rev’rend Fire«, erklärte Rev’rend Rage. »Er ist der Jüngste von uns und gehört noch nicht lange zu unserer Gemeinschaft. Er stammt aus einer Familie mit neun Kindern und war der Älteste. Er versteht sich auf solch kleine Menschenkinder.«
»Er hat ihnen Süßigkeiten versprochen und will ihnen Geschichten erzählen.« Die junge Frau sprach mit stockender Stimme. Auch ihre Haltung und Gestik waren die eines sehr schüchternen Menschen. »Er ist ja so nett…«
»Er dient dem HERRN, weiter nichts«, sagte Rev’rend Rage. »Und das solltest du auch tun, Margot.«
»O ja, das will ich gern.« Ein kindliches Leuchten huschte über ihr schönes Gesicht. »Was muss ich tun, wenn ich dem HERRN dienen will?«
Rev’rend Rage lehnte sich zurück. Die Entwicklung des Gesprächs gefiel ihm. Auch wenn es ihn Mühe kostete, nicht dorthin zu schauen, wo der graue Stoff die geschwungenen Linien ihres schönen Leibes andeuteten, war er zufrieden. »Nun – du darfst nicht fluchen, du darfst nicht lügen, du darfst keine Unzucht treiben, auch nicht in Gedanken. Du musst den Dienern des HERRN gehorchen; das sind wir.« Er stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen, faltete die Hände und erklärte ihr die Gesetze des HERRN.
»Das will ich alles gerne tun«, erklärte Margot. »Wenn ich nur bei euch bleiben darf!«
»Bis die Gefahr vorüber ist, wirst du sicher ein paar Tage hier in der Tempelresidenz bleiben können«, sagte Rev’rend Rock mit seiner Knabenstimme. »Danach werden wir dir und deinen Kindern eine Bleibe in der Gottesstadt verschaffen. Hier, in der Tempelresidenz, leben gewöhnlich nur Mitglieder des Rev’rend-Ordens.« Rev’rend Rock räusperte sich. »Also nur Männer.«
»Du kannst jedoch nur dann in der Gottesstadt wohnen, wenn du deine Sünden bereust und dich zum HERRN bekehrst«, schränkte Rev’rend Rage sofort ein, und weil die schöne Margot ein wenig verständnislos dreinblickte, erklärt er ihr, was es mit Reue und Buße und Bekehrung auf sich hatte. Sie hörte aufmerksam zu – so aufmerksam, wie Rev’rend Rage es von einer gelehrige Schülerin erwartete.
Nach zwei Stunden etwa nahm er ihr die Beichte ab – das Übliche: ein paar Lügen, ein paar unzüchtige Gedanken und ein paar kleinere Diebstähle – und erteilte ihr die Absolution.
Willig akzeptierte die rothaarige Margot die Gebote des HERRN und die Ordnung in der Gottesstadt und erklärte sich bereit, einmal am Tag zur persönlichen Glaubensunterweisung in Rev’rend Rages Privatkapelle zu erscheinen.
»Die Erziehung deiner Kinder wird Rev’rend Rock in die Hand nehmen, solange du bei uns in der Tempelresidenz Asyl genießt«, sagte Rev’rend Rage gegen Ende des langen Gespräches. Ständig wollte sein Blick über ihren schönen Körper vagabundieren, wollte seine Fantasie sich ausmalen, wie sie unter dem hässlichen grauen Tuch aussehen mochte. Er wehrte sich mit innerlichen Stoßgebeten gegen die sündigen Gedanken und fasste nach seinem Kreuz, das ihm unter seinem Pelzmantel auf der Brust hing.
»Natürlich wirst du, wie alle in der Gottesstadt, für deinen Lebensunterhalt arbeiten«, erklärte Rev’rend Rage schließlich. »Wir dachten, dass du für Sauberkeit in der Tempelresidenz sorgst und ein wenig in der Küche hilfst.«
Auch dazu erklärte Margot sich ohne weiteres bereit. Rev’rend Rage schickte nach Rev’rend Bonebreaker und wies ihn an, die junge Frau zu Rev’rend Lightning in die Küche zu bringen, damit sie gleich bei der Zubereitung des Mittagsmahls helfen konnte. Danach machte er sich eilig auf den Weg zu seiner Privatkapelle.
Er war aufgewühlt und wollte allein sein, um zu beten und Buße zu tun wegen seiner
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