2284 - Die Fliegenden Rochettes
Schwanken geraten war, und mit Hilfe der Balancierstange korrigieren.
Dann aber gewann sie an Sicherheit und kam immer besser in Schwung. Kerzengerade aufgerichtet, setzte sie, ohne nach unten zu sehen, Fuß vor Fuß. In der Mitte der Arena drehte sie sich um die eigene Achse, ging auf einem Bein in die Hocke, sprang ansatzlos über die Stange wie über eine Springschnur - und landete so sicher im Herrenspagat auf dem wippenden Seil, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Babett bemerkte, dass ihr der Mund vor Staunen offen stand. Gertraudis, Sirene und die übrigen im Rund stehenden Artisten applaudierten frenetisch.
Ashanty kam scheinbar mühelos aus dem Spagat wieder hoch, warf Babett die Stange zu und ging mit einem einhändigen HandstandÜberschlag vom Seil ab. Auf ihrem Gesicht war kein Tropfen Schweiß zu erkennen. Lächelnd vollführte sie einen Knicks, dann fragte sie: „Bin ich engagiert?"
„Und ob!", rief Sirene. Babett spürte, dass sich ein Hauch von Ärger in ihre Bewunderung mischte.
Sie hat die Unsicherheit zu Beginn nur gespielt, hat uns alle an der Nase herumgeführt, begriff sie. Babett fühlte sich betrogen.
Was mag Mondra sonst noch vor uns verbergen?
Gertraudis schob sich neben sie. „Nimm's um Himmels willen nicht persönlich", flüsterte die Ertruserin. „Erinnere dich daran, wie du zu uns gekommen bist. Du hast auch nicht sofort gezeigt, was du alles draufhast, oder?"
Babett wischte sich übers Gesicht. Gertraudis hatte Recht.
Die Frau, die sich Ashanty nannte, trat zu ihnen. „Für eine richtige Nummer reicht das noch lange nicht", sagte sie. „Ich wäre euch dankbar, wenn ihr mir Ratschläge für die Choreografie und Dramaturgie geben könntet."
Sie blinzelte Babett zu. „Diesmal bluffe ich nicht. Mein Repertoire ist mit Sicherheit völlig veraltet. Als ich das letzte Mal öffentlich aufgetreten bin, warst du noch gar nicht geboren."
Das sollte wohl eine Art Entschuldigung darstellen; Babett akzeptierte sie wortlos. Ihr Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war.
Etwa eine Stunde lang arbeiteten sie hart und konzentriert. Dann legten sie, bevor sie sich dem Trapez zuwenden wollten, eine kurze Pause ein.
Getraudis bot an, Elektrolytgetränke zu holen. Als sie gegangen war, fragte Babett: „Stimmt es, dass du Vollwaise bist? Ich meine, in Wirklichkeit?"
Mondra sah sie lange an. „Ja. Aber wir sollten ... darüber nicht reden. Ich bin Ashanty, und deren Eltern wohnen gesund und munter auf Olymp."
„Meine Mutter ist kurz nach meiner Geburt gestorben."
„Das tut mir Leid." Babett schüttelte den Kopf. „Ich besitze keine Erinnerung an sie. Mein Vater lebt noch. Aber er hat ....uns, also mich und meine Stiefmutter, verlassen, als ich neun war."
„Das muss sehr schlimm für dich gewesen sein."
„Ja, das war es. Jahrelang habe ich mir die Schuld dafür gegeben. Weil ich nicht so brav gelernt habe, wie er es wollte, weil ich nicht so begabt war, wie er es sich gewünscht hätte, weil ich ... kein Junge war, sondern nur ein Mädchen."
„Bist du deshalb Hochartistin geworden? Um dich zu beweisen?"
„Du etwa nicht?"
„Doch. Ich verstehe dich gut. - Hat dein Vater dich jemals im Zirkus gesehen?"
„Nein, kein einziges Mal. Ich schicke ihm jede Woche eine Einladung, seit vielen Jahren.
Doch er antwortet nicht."
Gertraudis kam mit den Saftflaschen. Sie tranken ausgiebig, dann kletterte Äshanty hoch zum Trapez
23.
Im Inneren der Baracke war es warm und gemütlich. Der Aufenthaltsraum diente auch als Imbissstube für vorbeikommende Wanderer. Etwa die Hälfte der Tische war besetzt mit rotgesichtigen Stadtleuten in verwegen karierten Baumwollhemden, die Bier oder Schnapstee tranken und sich über Kletterrouten und Bergausrüstung unterhielten.
Homer hielt sich im Hintergrund, während Matti mit den Meteorologen und Mineralogen der Station fachsimpelte. Der Zirkusdirektor zeigte sich auf beiden Gebieten sehr versiert. Wie alle Hobby-Forscher liebte er es, im Gespräch mit Profis sein Fachwissen unter Beweis zu stellen.
Der Zellaktivatorchip in Homers linker Schulter pulsierte heftig. Trotz der belebenden Wirkung des Geräts, das ihm biologische Unsterblichkeit bescherte und ihn gegen die meisten Krankheiten und Gifte immunisierte, war er rechtschaffen müde. Adams war der älteste noch lebende Terraner, und momentan fühlte er sich auch so, obwohl sein Alterungsprozess mit 62 Jahren angehalten worden war, anno 1980 alter Zeitrechnung.
Oft und
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