23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
Erkenntnis nähert sich der Morgen, und wenn du willst, so teilt er sie dir mit.“
„Ja, ich heiße ihn willkommen, und er soll mein Lehrer sein“, rief er aus. „Du aber mußt ruhen und schlafen, den ganzen heutigen Tag. Ich verlangte zu viel von deinem noch nicht genesenen Körper. Darf ich dich für kurze Zeit wecken, ehe ich aufbreche, Effendi?“
„Ja, unbedingt! Ich habe vorher mit Agha Sibil zu sprechen und dann den Brief nach Bagdad zu schreiben.“
„So nimm jetzt meinen Dank, und schlaf am Herzen der Liebe ein, die dich und mich bewacht, indem sie uns wie eine einzige Seele umschließt!“
Er zog mich innig an sich, um mich auf Stirn und Mund zu küssen. Dann ging er hinab. Kaum war er fort, so trat die lange zurückgehaltene Schwäche ein. Es überkam mich so große Müdigkeit, daß ich schnell mein Lager aufsuchte und mich niederlegte, gleich so, wie ich war. Das Fenster stand offen. Ich richtete den letzten Blick hinaus. Am Himmel begannen die Strahlen in goldenen Funken zu blitzen. Dann war es wie ein Meer des Lichtes, welches mich plötzlich über und über umflutete. Nun schloß ich die Augen und schlief ein, doch ohne daß es um mich dunkel wurde. Wie war das sonderbar! – – –
ZWEITES KAPITEL
Unter den Ruinen
Wenn ein Maler alles das, was ich gestern mit dem Ustad gesprochen hatte, auf die Leinwand bringen könnte, so würde er es wohl am besten mit ‚Morgengrauen im Menscheninnern‘ zu unterzeichnen haben. Die vorangehende lebensgefährliche Erkrankung, die Genesungsfreudigkeit, die fromme Feier am Tempeltag, das Erscheinen der Bluträcherschar, der vereitelte Mord in der Halle, das alles hatte trotz meiner innern Ruhe und Stetigkeit doch Nebel in mir aufgerührt, welche das fast überlang geführte Gespräch nur schwer zu Ende kommen ließen. Und noch viel schwerer war es in dem Ustad aufgewallt. Seine Lebensanschauung hatte im Haine Mamre gewurzelt, wohin die Engel einst zu Abraham kamen, und ihren höchsten Punkt in dem Wort Christi gefunden: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen!“ Dieses Gebet war seine Richtschnur gewesen allezeit, in jeder Lebenslage. Da hatten sich die andern, die sich ebenso Christen nennen, mit ihrem Haß auf ihn gestürzt, um ihn und seine Nächstenliebe zu vernichten. Er hatte nur einige kurze Versuche gemacht, sich gegen sie zu wehren; aber als er erkannte, mit welchen Waffen man gegen ihn kämpfte, da zog er sich in das stille, ruhige Land des Schweigens zurück, der christlichen Mahnung gedenkend: „So dir jemand deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel!“ Aber in seinem Innern wallte es auf in wichtig schweren Fragen: Wer hat recht? Auf wessen Seite steht die göttliche Wahrheit, der göttliche Wille? Bei Christo, welcher sprach: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn?“ Oder bei diesen hochangesehenen christlichen Priestern und Laien, die mit den Gottesleugnern im engsten Operationsbund den begeisterten Bekenner der Lehre von der Nächstenliebe aus der ‚Gemeinschaft der Gläubigen‘ hinauszuwerfen trachteten? Es kann ja doch gewiß nur eines von beiden wahr und richtig sein! Entweder hat der Heiland sich geirrt, indem er etwas forderte, was ganz unmöglich war, oder diese Herren treten mit Widerwillen vor dem allerchristlichsten seiner Gebote zurück, weil ihnen die Selbstüberwindung fehlt, es zu erfüllen!
Wenn solche Fragen im Ustad nach klarer Antwort und nach Lösung trieben, so mußte alles, was in ihm fest gestaltet gewesen war, ins Wanken kommen, tief erschüttert werden. Daher sein Bestreben, mich zu sich heran in das Gespräch zu ziehen und so lange festzuhalten, bis er deutlich sehe, wo eigentlich das wahre Christentum zu finden sei, bei ihm oder bei diesem anderen. Wo es zu suchen sei, das wußte ich genau, durfte es ihm aber nicht in deutlichen Worten sagen, weil die Klarheit in seinem eigenen Innern aufzutauchen hatte. Daher mein dilatorisches Verhalten, die Dehnung unseres Stoffes und dann aber auch unsere gemeinschaftliche Freude, als die Antwort endlich, endlich aus dem Alabasterzelt herabgestiegen kam.
Nun war es hell und licht geworden, sogar während meines Schlafs. Ich weiß, ich träumte nicht, und dennoch war es mir, als ob ich träume. Wer war ich wohl, und wo befand ich mich? Ich atmete nicht, und doch war alles Odem! Ich bewegte mich nicht, und doch wallten tausend und abertausend Wogen unendlichen Glücks in mir. Meine Augen waren geschlossen, und dennoch sah
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