23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Kommunisten werden (oben im Norden), dann sind wir noch kommunistischer als die Russen. Als wir zwischen den Sechzigern und den Achtzigern einen Staatskapitalismus nach japanischem Vorbild praktizierten (im Süden), waren wir noch staatskapitalistischer als die Japaner. Nun, da wir zu einem Kapitalismus nach US-Vorbild übergegangen sind, belehren wir die Amerikaner über die Werte des freien Handels und beschämen sie hinten und vorne durch unsere deregulierten Finanz- und Arbeitsmärkte.
Es war also nur natürlich, dass wir bis zum 19. Jahrhundert auch konfuzianischer waren als die Chinesen, solange wir uns im chinesischen Einflussbereich befanden. Der Konfuzianismus – für diejenigen, die sich nicht so gut damit auskennen – ist ein kulturelles System, das auf den Lehren von Konfuzius basiert. Konfuzius ist der lateinisierte Name von Kong Tse, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte. Angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs mancher konfuzianischer Länder glauben heute viele Menschen, der Konfuzianismus sei eine der wirtschaftlichen Entwicklung besonders förderliche Kultur. Es handelte sich jedoch um eine typische feudale Ideologie, bis sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Anforderungen des modernen Kapitalismus angepasst wurde. 1
Wie die meisten feudalen Ideologien sah auch der Konfuzianismus eine strenge gesellschaftliche Rangordnung vor, in der die Berufswahl der Menschen ihrer Geburt entsprechend geregelt war. Dies verhinderte, dass begabte Leute aus niedrigeren Kasten über ihren Stand aufsteigen konnten. Im Konfuzianismus herrschte eine strikte Trennung zwischen Bauern (die man als Rückgrat der Gesellschaft betrachtete) und anderen Arbeiterklassen. Die Söhne von Bauern konnten sich zur (unglaublich schwierigen) Prüfung für den Regierungsdienst anmelden und in die herrschende Klasse aufsteigen, wenngleich dies in der Praxis nur sehr selten vorkam. Die Söhne von Handwerkern und Händlern hingegen waren erst gar nicht zu der Prüfung zugelassen, wie klug sie auch sein mochten.
China, das Geburtsland des Konfuzianismus, nahm bei der Interpretation der klassischen Doktrin eine pragmatischere Haltung ein und ließ auch Angehörige der Händlerund Handwerkerklassen zur Beamtenprüfung zu. Korea indes verhielt sich noch konfuzianischer als Konfuzius, hielt hartnäckig an der Doktrin fest und weigerte sich, begabte Leute einzustellen, weil sie schlicht die »falschen« Eltern hatten. Erst nach der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft (1920 bis 1945) wurde das traditionelle Kastensystem endgültig abgeschafft und dem individuellen Fortkommen keine Grenzen mehr durch die Geburt gesetzt (obwohl sich das Vorurteil gegenüber Handwerkern – heute: Ingenieuren – und Händlern – heute: Managern – noch ein oder zwei Jahrzehnte hielt, bis diese Berufe durch die wirtschaftliche Entwicklung attraktiv wurden).
Das feudale Korea war freilich nicht das einzige Land, in dem den Menschen Chancengleichheit verweigert wurde. Die europäischen Feudalgesellschaften funktionierten nach einem ganz ähnlichen Prinzip, und in Indien hat das Kastensystem immer noch großen Einfluss auf das Leben, wenn auch nur unterschwellig. Es waren auch beileibe nicht nur solche Kastensysteme, die den Menschen die Chancengleichheit verwehrten. Bis zum Zweiten Weltkrieg war es Frauen in den meisten Gesellschaften nicht gestattet, ein öffentliches Amt zu bekleiden; man versagte ihnen sogar sämtliche politischen Bürgerrechte und damit auch das Wahlrecht. Bis vor Kurzem beschränkten viele Länder den Zugang zu Bildung und Arbeit nach rassischen Gesichtspunkten. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stoppten die USA die Einwanderung sogenannter »unerwünschter Rassen« insbesondere aus Asien. Während des Apartheidregimes gab es in Südafrika getrennte Universitäten für Weiße und alle übrigen Bürger (die »Farbigen« und die Schwarzen). Letztere wurden finanziell kaum unterstützt.
Es ist also noch nicht lange her, dass die meisten Menschen auf der Welt aufgrund ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer Kaste am sozialen Aufstieg gehindert waren. Chancengleichheit ist ein hohes Gut.
Machen Märkte frei?
Viele Regeln, die eine Chancengleichheit formal einschränken, sind über die letzten paar Generationen abgeschafft worden. Dies lag in der Hauptsache daran, dass die Diskriminierten für ihre politische Gleichstellung kämpften – etwa die Chartisten, die in Großbritannien Mitte des 19.
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