23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
ausgingen, dass jeder nur auf seinen Vorteil bedacht ist, und ständig die Motive unserer Beschäftigten hinterfragten, käme der Betrieb zum Erliegen. Wir müssten uns ernsthaft mit Vorschlägen befassen, von denen wir nichts verstehen. Man kann keine große bürokratische Organisation leiten, sei es Kobe Steel oder einen Staat, wenn man davon ausgeht, dass jeder nur an sich denkt.«
Das ist nur eine Anekdote, doch sie zeigt eindrücklich die Grenzen der Wirtschaftstheorie auf, nach der Eigennutz die einzige menschliche Motivation ist, die zählt. Ich will das näher ausführen.
Eigennützige Metzger und Bäcker
In der freien Marktwirtschaft geht man davon aus, dass alle wirtschaftlich Tätigen egoistisch sind, wie Adam Smiths Beispiel vom Metzger, Bierbrauer und Bäcker illustriert. Der Charme des Marktsystems besteht demnach darin, dass es die, wie es zunächst erscheint, negativsten Seiten der menschlichen Natur – Selbstsucht oder Gier – zu etwas Produktivem und sozial Nützlichem umleitet.
Geht man von dieser Selbstsucht aus, so versucht jeder Ladenbesitzer, seine Kunden übers Ohr zu hauen, jeder Arbeiter, sich um die Arbeit zu drücken, und jeder Profimanager, statt des Gewinns, der ja vor allem den Aktionären nutzt, sein Einkommen und Prestige zu maximieren. Doch die Macht des Marktes setzt diesem Verhalten enge Grenzen, eliminiert es vielleicht sogar vollständig: Ladenbesitzer hauen niemanden übers Ohr, wenn die Konkurrenz um die Ecke lauert, Arbeiter geben ihre volle Leistung, weil sie ansonsten leicht ersetzt werden können, und Manager schröpfen ihre Aktionäre nicht, weil sie sich in einem pulsierenden Aktienmarkt bewegen und bei sinkenden Gewinnen und Aktienkursen durch eine Übernahme ihren Job verlieren könnten.
In dieser Hinsicht sind für Marktliberale staatliche Vertreter – Politiker und Regierungsbeamte – eine echte Herausforderung. Weil sie nicht der Marktdisziplin unterliegen, lässt sich ihre Selbstsucht nicht so leicht eindämmen. Politiker stehen untereinander in Konkurrenz, doch da so selten gewählt wird, hält sich die disziplinarische Wirkung in Grenzen. Volksvertreter haben daher reichlich Gelegenheit, eine Politik zu betreiben, die auf Kosten der Allgemeinheit ihre Macht und ihren Reichtum mehrt. Bei Regierungsbeamten ist diese Tendenz noch stärker. Wenn ihre politischen Vorgesetzten, also die Politiker, sie dazu bringen wollen, eine dem Wählerwunsch entsprechende Politik umzusetzen, gelingt es ihnen oft, ihre Dienstherren in die Irre zu führen und zu manipulieren, wie es in der BBC-Serie Yes, Minister und der Fortsetzung Yes, Premierminster so wunderbar vorgeführt wird. Anders als die Politiker haben diese Karrierebeamten eine große Jobsicherheit, wenn nicht gar eine Lebensanstellung, sodass sie ihre politischen Herren schlichtweg aussitzen können, indem sie Maßnahmen immer wieder vor sich herschieben. Diese Crux steht hinter den Bedenken, die auf der erwähnten Konferenz in Japan von den Weltbankökonomen vorgebracht wurden. Verfechter der freien Marktwirtschaft empfehlen daher, die Kontrolle der Wirtschaft durch Politiker und Beamte zu minimieren. Deregulierung und Privatisierung sind aus dieser Perspektive nicht nur wirtschaftlich effizient, sondern auch politisch sinnvoll: Immerhin sinkt damit die Wahrscheinlichkeit, dass Regierungsbeamte auf Kosten der Allgemeinheit den Staat für die eigenen Interessen missbrauchen. Die sogenannte New Public Management School geht sogar noch weiter und empfiehlt, auch die Organisation des Staates stärker den Marktkräften auszusetzen: durch eine leistungsorientierte Bezahlung und befristete Verträge für Beamte, durch die Auslagerung staatlicher Dienstleistungen sowie durch einen aktiveren Austausch von Personal zwischen öffentlichem und privatem Sektor.
Wir sind vielleicht keine Engel, aber …
Die Annahme, dass die freie Marktwirtschaft auf einem egoistischen Individualismus gründet, spiegelt sich in unseren persönlichen Erfahrungen wider. Wir sind alle schon einmal von skrupellosen Händlern übers Ohr gehauen worden, sei es der Obstverkäufer, der verfaulte Pflaumen unten in die Tüte gelegt hat, oder der Joghurthersteller, der den gesundheitlichen Nutzen seiner Produkte völlig übertrieben dargestellt hat. Wir kennen viel zu viele korrupte Politiker und faule Beamte, als dass wir noch glauben könnten, dass sich die Staatsdiener tatsächlich dem öffentlichen Wohl verpflichtet fühlen. Die meisten von uns,
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