23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
nicht so grundlegend – zumindest noch nicht. Natürlich hat das Internet die Freizeitgestaltung der Menschen verändert: Man surft im Netz, tauscht sich mit Freunden auf Facebook aus, chattet mit ihnen über Skype, spielt online mit Mitspielern, die 8000 Kilometer entfernt sind, und so weiter. Auch den Austausch von Informationen, sei es über Versicherungen, Urlaub, Restaurants oder sogar den Preis von Brokkoli und Haarshampoo hat das Internet viel effizienter gemacht.
Doch wenn man sich den Produktionsprozess ansieht, waren die Auswirkungen des Internets bislang vielleicht doch nicht so revolutionär. Für manch einen hat es die Arbeit natürlich enorm verändert. Das weiß ich aus Erfahrung. Dem Internet habe ich es zu verdanken, dass ich ein ganzes Buch zusammen mit meiner Kollegin, Professor Ilene Grabel, schreiben konnte, die in Denver, Colorado, arbeitet, obwohl wir uns nur einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen und ein- oder zweimal telefoniert haben. 5 In vielen Bereichen hat sich das Internet jedoch nicht auf die Produktivität ausgewirkt. Studien tun sich jedenfalls bislang schwer, positive Wirkungen des Internets auf die Gesamtproduktivität nachzuweisen. Robert Solow, Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger, meint dazu, es gebe »Anzeichen allenthalben, nicht aber in Zahlen«.
Vielleicht halten Sie meinen Vergleich für unfair. Die von mir erwähnten Haushaltsgeräte hatten mehrere Jahrzehnte, zum Teil ein Jahrhundert Zeit, um ihre Zauberwirkung zu entfalten, während das Internet gerade einmal zwanzig Jahre allgemein verfügbar ist. Das ist zum Teil richtig. Der renommierte Wissenschaftshistoriker David Edgerton beschreibt in seinem faszinierenden Buch The Shock of the Old: Technology and Global History Since 1900 , dass die maximale Nutzung einer Technik und damit auch die maximale Wirkung oft erst Jahrzehnte nach ihrer Erfindung einsetzt. Doch auch im Hinblick auf seine unmittelbare Wirkung bezweifle ich, dass das Internet jene revolutionäre Technik ist, als welche es noch immer gilt.
Telegrafie schlägt Internet
Vor Beginn der transatlantischen Kabeltelegrafie im Jahr 1866 war ein Brief zur jeweils anderen Seite des Großen Teichs etwa drei Wochen unterwegs – so lange brauchte ein Segelschiff für die Überquerung des Atlantiks. Auch für die »Expresssendung« mit dem Dampfschiff, das aber erst in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts üblich war, musste man zwei Wochen rechnen; die Rekordzeit lag damals bei acht bis neun Tagen.
Die Telegrafie senkte die Übermittlungszeit einer, sagen wir, Nachricht mit 300 Wörtern auf sieben oder acht Minuten. Manchmal ging es sogar noch schneller. Die New York Times berichtete am 4. Dezember 1861, dass Abraham Lincolns Rede zur Lage der Union mit 7578 Wörtern in 92 Minuten von Washington in den Rest des Landes übermittelt worden war, also mit durchschnittlich 82 Wörtern pro Minute. Eine Nachricht mit 300 Wörtern wäre somit in weniger als vier Minuten übermittelt worden. Doch das war ein Rekord, und der Durchschnitt lag bei etwas über 40 Wörtern pro Minute, das sind siebeneinhalb Minuten für eine 300-Wörter-Nachricht. Eine Reduzierung der Übermittlungszeit von zwei Wochen auf siebeneinhalb Minuten entspricht einem Faktor von 2500.
Das Internet senkte die Übermittlungszeit einer 300-Wörter-Nachricht von zehn Sekunden per Fax auf, sagen wir, zwei Sekunden, also um den Faktor fünf. Größer ist die Zeitersparnis bei längeren Nachrichten: Das Internet kann in zehn Sekunden (Ladezeit inbegriffen) ein Dokument mit 30 000 Wörtern übermitteln, das per Fax mehr als 16 Minuten (oder 1000 Sekunden) gebraucht hätte, sodass wir zu einer Beschleunigung um das Hundertfache gelangen. Aber was ist das im Vergleich zur 2500-fachen Beschleunigung, die die Telegrafie mit sich brachte?
Das Internet bietet natürlich andere, wahrhaft revolutionäre Möglichkeiten. Wir können damit sehr schnell Bilder übermitteln, was mit Telegrafie oder Fax gar nicht möglich war, sodass diese per Post geliefert werden mussten. Ins Netz kommt man nicht nur auf der Postfiliale, sondern fast überall. Ebenso können wir Informationen aus einer ungeheuren Vielzahl von Quellen beziehen. Was allerdings die Beschleunigung angeht, ist das Internet nicht annähernd so revolutionär wie die Telegrafie mit oder sogar ohne Kabel.
Dass wir den Einfluss des Internets überschätzen, liegt daran, dass es uns jetzt betrifft. Das geht nicht nur uns so. Die
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