23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Menschen neigen dazu, über die neuesten und auffälligsten Techniken in Verzückung zu geraten. Schon im Jahr 1944 mokierte sich George Orwell über die Begeisterung seiner Zeitgenossen für die »Auflösung der Distanz« und die »Aufhebung von Grenzen« durch das Flugzeug und das Radio.
Veränderungen richtig einordnen
Wen kümmert es, wenn die Menschen fälschlicherweise dem Internet eine einschneidendere Wirkung zuschreiben als der Telegrafie oder der Waschmaschine? Was macht es schon, wenn die jüngsten Neuerungen den größten Eindruck auf uns machen?
Es wäre völlig unerheblich, wenn es nur eine reine Ansichtssache wäre. Doch die Verzerrung der Perspektive hat handfeste Folgen, weil sie eine völlig fehlgeleitete Nutzung wertvoller Ressourcen nach sich zieht.
Die Begeisterung für die Neuerungen im Bereich Information und Telekommunikation, repräsentiert durch das Internet, hat einige reiche Länder, insbesondere die USA und Großbritannien, zu der Fehleinschätzung verführt, die Herstellung von Gütern sei dermaßen altmodisch, dass sie fortan lieber von Ideen leben wollten. Wie ich unter Nr. 9 erklären werde, hat der Glaube an die »postindustrielle Gesellschaft« diese Länder dazu verleitet, das produzierende Gewerbe sträflich zu vernachlässigen, mit schlimmen Auswirkungen auf ihre Wirtschaft.
Noch beunruhigender ist die Angst vor der »digitalen Spaltung« zwischen reichen und armen Ländern, die von der Faszination des Internets in der internationalen Gemeinschaft geschürt wurde. Unternehmen, Wohltätigkeitsorganisationen und Individuen spenden zunehmend Geld für den Erwerb von Computern und Internet-Dienstleistungen in den Entwicklungsländern. Die Frage ist jedoch, ob die Entwicklungsländer gerade das am dringendsten brauchen. Vielleicht würde es das Leben der Menschen positiver beeinflussen, wenn das Geld für weniger neumodische Errungenschaften wie Brunnen, Stromleitungen und erschwingliche Waschmaschinen ausgegeben würde, statt jedes Kind mit einem Laptop zu versorgen und jedes Dorf mit einem Internetcafé. Ich will nicht behaupten, dass diese Dinge überall wichtiger sind, aber viele Geldgeber stürzen sich auf schicke Programme, ohne zuvor sorgfältig die langfristigen Kosten zu überschlagen und abzuwägen, welchen Nutzen eine andere Verwendung ihres Geldes hätte.
Ein letztes Beispiel: Die Faszination des Neuen hat die Menschen zu der Überzeugung verleitet, die jüngsten Veränderungen in der Kommunikations- und Transporttechnik seien dermaßen revolutionär, dass wir heute in einer »grenzenlosen Welt« leben, um einen Buchtitel des japanischen Wirtschaftsgurus Kenichi Ohmae zu zitieren. 6 In den vergangenen zwanzig Jahren war daher die Ansicht verbreitet, dass heute jede Veränderung auf den monumentalen technischen Fortschritt zurückzuführen sei. Wer sich dagegenstelle, versuche die Zeit zurückzudrehen. Im Glauben an diese grenzenlose Welt haben viele Staaten eine Reihe überaus notwendiger Regelungen zum grenzüberschreitenden Transfer von Kapital, Arbeit und Gütern abgebaut, mit unbefriedigenden Ergebnissen, wie wir in Nr. 7 und 8 sehen werden. Doch wie ich bereits aufgezeigt habe, sind die jüngsten technischen Fortschritte in diesen Bereichen nicht annähernd so revolutionär wie entsprechende Neuerungen vor hundert Jahren. Die Welt war damals trotz schlechterer Kommunikations- und Transporttechnik sogar erheblich globalisierter als im Zeitraum zwischen 1960 und 1990, weil die Staaten, insbesondere die mächtigen, in der späteren Phase den grenzüberschreitenden Transfer stärker regulierten. Der Grad der Globalisierung – man kann auch sagen: die Offenheit der Staaten – wurde mithin nicht von der Technik bestimmt, sondern wiederum von der Politik. Wenn wir uns allerdings von unserer Faszination für die jüngsten technischen Neuerungen irreleiten lassen, übersehen wir das und ergreifen die falschen politischen Maßnahmen.
Wer eine gute Wirtschaftspolitik betreiben will, muss begreifen, wohin die technische Entwicklung geht, sowohl national als auch international. Das gilt auch für jeden Einzelnen von uns, wenn es um berufliche Entscheidungen geht. Die Faszination gegenüber den neuesten Techniken und die Geringschätzung von Entwicklungen, die schon länger etabliert sind, können in die Irre führen und haben das auch schon getan. Ich habe das gezielt provokativ dargelegt, indem ich die profane Waschmaschine gegen das Internet habe antreten lassen, doch
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