23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Einkommen stark von der angewandten Methode und den einfließenden Daten abhängig sind. Ein Beispiel: Als die Weltbank 2007 ihre Methode zur Schätzung des kaufkraftparitätischen Einkommens änderte, fiel das neu errechnete chinesische Pro-Kopf-Einkommen um 44 Prozent von 7740 auf 5370 Dollar, wohingegen das von Singapur von 31 710 auf 48 520 über Nacht um 53 Prozent anstieg.
Trotz solcher Einschränkungen wird der Lebensstandard eines Landes wahrscheinlich besser verständlich, wenn man das Durchschnittseinkommen in internationalen Dollars ausdrückt, anstatt es nach Devisenkursen zu berechnen. Wenn man die Einkommen verschiedener Länder in internationale Dollars umrechnet, gelangen die USA (beinahe) wieder zurück an die Weltspitze. Die verschiedenen Ansätze weichen in ihrer Einstufung zwar voneinander ab, doch ist Luxemburg in jedem Fall das einzige Land, das ein höheres kaufkraftparitätisches Pro-Kopf-Einkommen aufweist als die USA. Solange man das kleine Großherzogtum Luxemburg mit weniger als einer halben Million Einwohner außer Betracht lässt, kann der amerikanische Durchschnittsbürger mit seinem Einkommen also die größte Menge an Waren und Dienstleitungen kaufen.
Doch lässt sich daraus schließen, dass die USA den höchsten Lebensstandard der Welt haben? Vielleicht. Allerdings muss man noch eine ganze Menge anderer Dinge berücksichtigen, bevor man zu diesem Urteil gelangen kann.
… oder etwa nicht?
Zunächst einmal bedeutet ein höheres Durchschnitts einkommen nicht zwingend auch, dass alle US-Bürger besser leben als ihre ausländischen Zeitgenossen. Ob dies der Fall ist oder nicht, hängt von der Einkommensverteilung ab. Freilich sagt das Durchschnittseinkommen in keinem Land etwas darüber aus, wie die Menschen wirklich leben, doch in einem Land mit höherer Ungleichheit ist der Begriff wahrscheinlich besonders irreführend. Angesichts der Tatsache, dass die Einkommen in den Vereinigten Staaten wesentlich ungleicher verteilt sind als in allen anderen reichen Ländern, kann man mit Sicherheit sagen, dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der USA den tatsächlichen Lebensstandard eines Großteils der Bevölkerung zu hoch ansetzt. Diese Mutmaßung wird durch andere für den Lebensstandard relevante Indikatoren unterstützt: Zum Beispiel liegen die USA, obwohl sie das höchste kaufkraftparitätische Pro-Kopf-Einkommen haben, in Gesundheitsstatistiken wie Lebenserwartung und Kindersterblichkeit weltweit nur an etwa 30. Stelle (okay, hier spielt auch das ineffiziente amerikanische Gesundheitssystem eine Rolle, doch wollen wir das hier nicht weiter vertiefen). Die wesentlich höhere Kriminalitätsrate als in Japan oder Europa – pro Kopf gerechnet sitzen in den USA acht Mal so viele Menschen im Gefängnis wie in Europa und zwölf Mal so viele wie in Japan – zeigt, dass es in den USA eine viel größere Unterschicht gibt.
Zweitens ist die Tatsache allein, dass das kaufkraftparitätische Pro-Kopf-Einkommen mehr oder weniger genauso hoch wie das nach Devisenkursen berechnete Einkommen ist, ein Beweis dafür, dass der höhere durchschnittliche Lebensstandard in den USA auf der Armut vieler aufbaut. Was meine ich damit? Wie ich bereits ausgeführt habe, ist es normal, dass das kaufkraftparitätische Pro-Kopf-Einkommen eines reichen Landes bisweilen sogar bedeutend niedriger ist als sein Devisenkurseinkommen, weil Dienstleistungen dort sehr teuer sind. Dies gilt jedoch nicht für die USA, wo im Gegensatz zu anderen reichen Ländern billiges Dienstleistungspersonal verfügbar ist. Zunächst gibt es einen großen Zustrom schlecht bezahlter Immigranten aus armen Ländern, von denen sich viele illegal in den USA aufhalten, was ihre Arbeit nur noch billiger macht. Zudem sind selbst gebürtige US-Amerikaner schlechter gestellt als viele ihrer europäischen Kollegen in Ländern mit einem vergleichbaren Einkommensniveau. Die Jobs sind längst nicht so sicher, und das soziale Netz ist weitmaschiger, sodass US-amerikanische Arbeitnehmer, insbesondere die nicht gewerkschaftlich organisierten in der Dienstleistungsindustrie, für niedrigere Löhne und zu schlechteren Konditionen arbeiten als ihre europäischen Kollegen. Deshalb sind Taxifahrten und Abendessen in Restaurants in den USA so viel billiger als in anderen reichen Ländern. Das ist toll für den Kunden, aber nicht für den Taxifahrer oder die Kellnerin. Mit anderen Worten: Die höhere Kaufkraft des durchschnittlichen US-amerikanischen
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