23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Einkommens geht auf Kosten eines niedrigeren Einkommens und schlechterer Arbeitsbedingungen vieler US-Bürger.
Schließlich und endlich sollte man beim Vergleichen der Lebensstandards verschiedener Länder die unterschiedlichen Arbeitszeiten nicht außer Acht lassen. Selbst wenn jemand fünfzig Prozent mehr verdient, hat er dadurch nicht automatisch einen höheren Lebensstandard, wenn er dafür doppelt so lange arbeiten muss. Genau das aber trifft auf die USA zu. Die Amerikaner machen ihrem Ruf als Workaholics alle Ehre: So arbeiteten sie im Jahr 2007 länger als die Bürger sämtlicher Länder mit einem nach Devisenkurs berechneten Durchschnittseinkommen von über 30 000 Dollar (die Griechen waren mit einem Durchschnittseinkommen von knapp unter 30 000 Dollar die Ärmsten von allen). Amerikaner arbeiten 10 Prozent länger als die meisten Europäer und rund 30 Prozent länger als die Holländer und die Norweger. Der isländische Wirtschaftswissenschaftler Thor valdur Gylafson berechnete das kaufkraftparitätische Pro-Kopf-Einkommen pro Arbeitsstunde; demnach rangierten die USA 2005 nur an achter Stelle – hinter Luxemburg, Norwegen, Frankreich (ja, Frankreich, die Nation der Müßiggänger), Irland, Belgien, Österreich und den Niederlanden -, knapp gefolgt von Deutschland. 1 Mit anderen Worten: Pro Arbeitseinheit erreicht ein Amerikaner nicht den gleichen Lebensstandard wie ein Entgeltempfänger in anderen, vergleichbaren Ländern. Diese niedrigere Produktivität wird durch längere Arbeitszeiten wieder wettgemacht.
Es ist natürlich durchaus nachvollziehbar, dass jemand länger arbeiten möchte, wenn sich dadurch ein höheres Einkommen erzielen lässt. Vielleicht ist ein neues Fernsehgerät wichtiger als eine Woche Urlaub. Aber wer kann schon beurteilen, ob diese Person deshalb in ihrem Leben falsche Prioritäten setzt?
Dennoch ist es legitim, die Frage zu stellen, ob Menschen, die länger arbeiten, das Richtige tun – insbesondere auf einem hohen Einkommensniveau. Die meisten Leute würden zustimmen, dass auf einem niedrigen Einkommensniveau eine Einkommenssteigerung die Lebensqualität aller Wahrscheinlichkeit nach erhöht, selbst wenn dies längere Arbeitszeiten mit sich bringt. Auch wenn man dafür länger in der Fabrik stehen muss, bedeutet ein höheres Einkommen auf diesem Niveau höchstwahrscheinlich eine Steigerung der gesamten Lebensqualität, angefangen bei der Gesundheit (durch bessere Lebensmittel, Heizung, Hygiene und gesundheitliche Versorgung) bis zur körperlichen Belastung im Haushalt (durch neue Haushaltsgeräte, fließendes Wasser, Gas und Elektrizität – siehe Nr. 4). Oberhalb eines bestimmten Einkommensniveaus jedoch verringert sich der relative Wert materiellen Konsums im Vergleich zur Freizeit. Wenn ein höheres Einkommen auf Kosten längerer Arbeitszeiten geht, kann dies die Lebensqualität möglicherweise schmälern.
Die Tatsache, dass die Bürger eines Landes länger arbeiten als ihre Zeitgenossen in vergleichbaren Ländern, bedeutet zudem noch lange nicht, dass sie gerne länger arbeiten. Möglicherweise gehen ihnen lange Arbeitszeiten gewaltig gegen den Strich, wenn sie doch eigentlich viel lieber länger Urlaub nehmen würden. Wie bereits geschildert, hängt die Arbeitszeit des Einzelnen nicht nur von seinen persönlichen Präferenzen hinsichtlich des Arbeit-Freizeit-Ausgleichs ab, sondern auch von Sozialleistungen, arbeitsrechtlichen Bestimmungen und der Macht der Gewerkschaften. Der Einzelne muss diese Dinge als gegeben hinnehmen, aber ein Land hat die Wahl. Es kann ein neues Arbeitsrecht erlassen, den Wohlfahrtsstaat stärken und andere politische Veränderungen herbeiführen, damit der Einzelne nicht mehr gezwungen ist, lange Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen.
Die breite Zustimmung für das amerikanische Modell stützt sich zum großen Teil auf die »Tatsache«, dass die Vereinigten Staaten den höchsten Lebensstandard der Welt genießen. Es steht zwar außer Frage, dass in den USA einer der weltweit höchsten Lebensstandards herrscht, doch gerät die bislang angenommene Überlegenheit ins Wanken, sobald man den Begriff des Lebensstandards weiter fasst, als sich mit der Kaufkraft des Durchschnittseinkommens darstellen lässt. Die höhere Ungleichheit in den USA bedeutet, dass das Durchschnittseinkommen als Indikator für den Lebensstandard der Bürger weniger aussagekräftig ist als in anderen Ländern. Das spiegelt sich auch in Indikatoren wie Gesundheit und Kriminalität
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