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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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zwingend einen höheren Lebensstandard genießen als vergleichbare andere Länder.

Die Straßen sind nicht mit Gold gepflastert

    Zwischen 1880 und 1914 emigrierten annähernd drei Millionen Italiener in die USA. Als sie dort ankamen, waren viele von ihnen bitter enttäuscht. Ihre neue Heimat war nicht das Paradies, das sie sich erträumt hatten. »Nicht nur, dass die Straßen nicht mit Gold gepflastert sind«, soll mancher Einwanderer nach Hause geschrieben haben, »sie sind überhaupt nicht gepflastert. Vielmehr sind wir diejenigen, die sie pflastern sollen.«
    Diese italienischen Immigranten waren nicht allein in ihrem Glauben, dass die USA der Ort wären, an dem Träume wahr würden. Die USA wurden zwar erst um 1900 zum reichsten Land der Erde, doch beflügelten sie bereits in den Anfängen ihrer Geschichte als Nation die Phantasien armer Leute in anderen Ländern. Anfang des 19. Jahrhunderts entsprach das Pro-Kopf-Einkommen in den Vereinigten Staaten etwa dem europäischen Durchschnitt und lag rund 50 Prozent unter dem von Großbritannien und der Niederlande. Arme Europäer zog es dennoch nach Amerika, weil es dort beinahe unerschöpfliche Ressourcen an Land gab (wenn man gewillt war, ein paar Eingeborene zu vertreiben) und ein akuter Arbeitskräftemangel herrschte, der bewirkte, dass die Löhne drei bis vier Mal höher waren als in Europa (siehe Nr. 7). Am wichtigsten aber war, dass die USA nicht an den Folgen des Feudalsystems litten und die soziale Mobilität dadurch höher war als in den Ländern der Alten Welt. Dieser Faktor wurde zum »amerikanischen Traum«.
    Die Vereinigten Staaten waren aber nicht nur für hoffnungsvolle Immigranten attraktiv. Insbesondere in den letzten paar Jahrzehnten haben Geschäftsleute und Politiker rund um den Globus das amerikanische Wirtschaftsmodell zu übernehmen versucht. Das System freien Unternehmertums, so die Bewunderer des US-Modells, lasse grenzenlosen Wettbewerb zu und belohne dessen Gewinner ohne staatliche oder durch einen missverstandenen Egalitarismus auferlegte Einschränkungen. Somit bereite das System einen außergewöhnlich fruchtbaren Boden für unternehmerische Initiative und Innovation. Sein freier Arbeitsmarkt, der Einstellungen und Entlassungen gleichermaßen leicht mache, gestatte es Unternehmen, flexibel und dadurch wettbewerbsfähig zu bleiben, da sie ihre Beschäftigten schneller als ihre Konkurrenten wieder freisetzen und so auf veränderte Marktsituationen reagieren könnten.
    Es ist ein System, das die Unternehmer reich belohnt. Die Arbeitnehmer indes müssen sich ständig neu orientieren. Somit entsteht eine große Ungleichheit. Die Verfechter des Systems halten jedoch dagegen, selbst die »Verlierer« akzeptierten solche harten Spielregeln bereitwillig, da angesichts der in den USA herrschenden hohen sozialen Mobilität ihre eigenen Kinder die nächsten Thomas Edisons, J. P. Morgans oder Bill Gates’ sein könnten. Bei solchen Anreizen für harte Arbeit und Erfindungsreichtum ist es kein Wunder, dass die USA im letzten Jahrhundert das reichste Land der Welt waren.

Amerikaner leben einfach besser …

    Das ist nicht ganz richtig. Die USA sind nicht mehr das reichste Land der Erde. Inzwischen haben einige europäische Länder ein höheres Pro-Kopf-Einkommen. Daten der Weltbank weisen für die USA im Jahr 2007 ein Pro-Kopf-Einkommen von 46 040 Dollar aus. Es gab jedoch sieben Länder, die ein höheres Pro-Kopf-Einkommen hatten, allen voran Norwegen (umgerechnet in US-Dollar: 76 450), gefolgt von Luxemburg, der Schweiz, Dänemark, Island und Irland. Das Schlusslicht bildete Schweden mit 46 060 Dollar. Rechnet man die beiden Ministaaten Luxemburg (480 000 Einwohner) und Island (311 000 Einwohner) nicht mit, sind die USA damit lediglich das sechsreichste Land der Welt.
    Mancher mag nun sagen, dies könne doch nicht stimmen. Wenn man in die USA reise, sehe man doch, dass die Menschen dort besser lebten als in Norwegen oder in der Schweiz.
    Ein Grund, warum wir diesen Eindruck gewinnen, ist, dass in den USA eine viel größere Ungleichheit als in europäischen Ländern herrscht und sie auf ausländische Besucher daher wohlhabender wirken, als sie tatsächlich sind – die heruntergekommenen Viertel, von denen es in den USA wesentlich mehr gibt als in Europa, bekommen ausländische Besucher in den seltensten Fällen zu sehen. Doch selbst wenn man diesen Ungleichheitsfaktor ignoriert, gibt es einen guten Grund dafür, warum die meisten Menschen denken,

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