23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
die Hochzeit ihrer Tochter zu bezahlen oder einen Engpass in der Haushaltskasse zu überbrücken, der durch die Erkrankung eines Familienmitglieds entstanden war. Mit anderen Worten: Der Hauptteil der Gelder aus Mikrokrediten wird nicht darauf verwendet, den unternehmerischen Eifer der Ärmsten zu fördern, wie es eigentlich Sinn und Zweck der Übung gewesen wäre. Vielmehr wird damit der Konsum finanziert.
Wichtiger noch ist, dass selbst der kleine Teil an Mikrokrediten, der tatsächlich in geschäftliche Aktivitäten fließt, die Menschen nicht etwa aus ihrer Armut befreit. Das klingt auf den ersten Blick widersprüchlich. Die armen Leute, die einen Mikrokredit aufnehmen, wissen schließlich, was sie tun. Anders als die frisch gebackenen Unternehmer in reichen Ländern haben die meisten bereits das eine oder andere Geschäft betrieben. Ihr unternehmerischer Geist ist durch ihren schieren Überlebenswillen und den verzweifelten Wunsch, der Armut zu entrinnen, extrem geschärft. Sie sind gezwungen, sehr hohe Gewinne zu erwirtschaften, weil sie marktübliche Zinsen bezahlen müssen. Was also läuft bei der Sache schief? All diese Menschen sind hoch motiviert, verfügen über die für ihr Geschäft erforderlichen Fähigkeiten und stehen unter hohem Erfolgsdruck durch den Markt. Sie unternehmen enorme Anstrengungen, und doch sind die Ergebnisse ziemlich bescheiden. Warum?
Wenn eine Mikrofinanzinstitution in einem bestimmten Gebiet zu operieren beginnt, kann es sein, dass die erste Kundenwelle tatsächlich einen Anstieg ihres Einkommens verzeichnen kann – manchmal sogar einen recht dramatischen. Beispielsweise schloss sich die Grameen Bank 1997 mit der norwegischen Telefongesellschaft Telenor zusammen und vergab Mikrokredite an Frauen, die sich damit ein Mobiltelefon kauften und es an andere Dorfbewohner vermieteten. Diese »Telefon-Ladys« erzielten recht ansehnliche Profite: 750 bis 1200 Dollar in einem Land, dessen jährliches Pro-Kopf-Einkommen sich durchschnittlich auf etwa 300 Dollar belief. Mit der Zeit jedoch tummeln sich in den über Mikrokredite finanzierten Geschäftszweigen zu viele Mitbewerber, und die Einnahmen gehen zurück. Im Fall der Grameen-Telefonkredite bedeutete das: Im Jahr 2005 gab es so viele Telefon-Ladys, dass ihr durchschnittliches Einkommen auf nur noch 70 Dollar im Jahr geschätzt wurde, obwohl das nationale Durchschnittseinkommen inzwischen auf 450 Dollar gestiegen war. Dieses Problem nennt man »Konkurrenzparadoxon« – die Tatsache, dass einige Leute mit einer bestimmten Geschäftsidee erfolgreich sein können, heißt nicht, dass jeder damit Erfolg haben muss.
Natürlich würde dieses Problem nicht existieren, wenn man ständig neue Geschäftsbereiche aus dem Ärmel schütteln könnte – wenn ein Geschäft nicht mehr profitabel ist, weil die Konkurrenz zu groß wird, eröffnet man einfach ein anderes. Wenn also zum Beispiel der Telefonverleih unrentabel wird, könnte man sein Einkommensniveau dadurch aufrechterhalten, dass man selbst Mobiltelefone herstellt oder Software für Handyspiele schreibt. Die Absurdität solcher Vorschläge liegt auf der Hand: Die Telefon-Ladys in Bangladesch haben schlicht nicht das nötige Kleingeld, um in die Telefonproduktion oder ins Softwaredesign einzusteigen. Das Problem ist, dass es vor dem Hintergrund des niedrigen Bildungsniveaus, der verfügbaren Technologien und des engen finanziellen Spielraums, den die Mikrofinanz bietet, in den Entwicklungsländern nur eine begrenzte Bandbreite (einfacher) Geschäftsmöglichkeiten gibt, in denen die Armen aktiv werden können. Der Bauer, der mithilfe eines Mikrokredits eine zusätzliche Milchkuh angeschafft hat, wird weiterhin Milch verkaufen, auch wenn er zusehen muss, wie die Preise auf dem örtlichen Markt ins Bodenlose fallen, weil inzwischen 300 andere Bauern ebenfalls mehr Milch produzieren. Er kann nicht von heute auf morgen Butter nach Deutschland oder Käse nach Großbritannien exportieren, weil das mit den Technologien, der Organisationsstruktur und dem Kapital, die ihm zur Verfügung stehen, schlicht nicht möglich ist.
Es gibt keine Helden mehr
Unsere bisherige Diskussion zeigt, dass die Armut in den armen Ländern nicht durch einen Mangel an unternehmerischer Energie entsteht, die dort ja in Hülle und Fülle vorhanden ist. Das Problem ist vielmehr ein anderes: Was die reichen Länder reich macht, ist ihre Fähigkeit, die unternehmerische Energie der Einzelnen zu einem kollektiven
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