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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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traditionell als Hochrisikogruppe eingestuft wurden, erfreute man sich einer sehr hohen Rückzahlquote von über 95 Prozent – was offenbar zeigte, dass die Armen äußerst bankfähig sind. Anfang der Neunzigerjahre wurde man auf den Erfolg der Grameen Bank und ähnlicher Institute, etwa in Bolivien, aufmerksam. Der Gedanke des Mikrokredits – oder weiter gefasst, der Mikrofinanz, die neben Krediten auch Ersparnisse und Versicherungen umfasst – verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
    Das Rezept klingt perfekt. Mikrokredite ermöglichen es den Armen, aus eigener Kraft aus der Armutsfalle zu gelangen, indem man ihnen die finanziellen Mittel in die Hand gibt, mit denen sie ihr unternehmerisches Potenzial ausschöpfen können. Bei diesem Prozess erlangen sie Unabhängigkeit und Selbstachtung, da sie für ihr Überleben nicht länger von Regierungsalmosen und ausländischen Hilfsorganisationen abhängig sind. Armen Frauen kommen die Mikrokredite besonders zugute, da sie ihnen die Möglichkeit verschaffen, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften und somit eine stärkere Position ihren männlichen Partnern gegenüber einzunehmen. Da die Regierung die Armen nicht mehr unterstützen muss, steht sie finanziell weniger unter Druck. Der Wohlstand, der bei diesem Prozess geschaffen wird, wirkt sich schließlich für die gesamte Volkswirtschaft positiv aus, nicht nur für die Unternehmer des informellen Sektors. Angesichts dieser Logik ist es nicht weiter verwunderlich, dass Professor Yunus glaubt, man könne mithilfe der Mikrofinanz »eine Welt schaffen, in der es keine Armut mehr gibt und wo der einzige Ort, an dem man noch Armut sehen kann, das Museum ist«.
    Im neuen Jahrtausend wurde die Mikrofinanz zum heiß gehandelten Trend in der Entwicklungshilfe. Das Jahr 2005 wurde von den Vereinten Nationen sogar zum »Internationalen Jahr des Mikrokredits« ausgerufen. Königliche Hoheiten wie Königin Rania von Jordanien und Prominente wie die Schauspielerinnen Natalie Portman und Aishwarya Rai unterstützten das Projekt. Als Professor Yunus und seine Grameen Bank 2006 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, erreichte die Akzeptanz der Mikrofinanz ihren Höhepunkt.

Die große Illusion

    Leider ist der ganze Hype um die Mikrofinanz aber eben nicht mehr als nur ein Hype. Die Mikrofinanz wird zunehmend kritisiert, selbst von einigen »Jüngern« der ersten Stunde. In einem neueren Arbeitspapier von David Roodman bekennt zum Beispiel Jonathan Morduch, lange Zeit ein Verfechter der Mikrofinanz: »Nach dreißig Jahren gibt es immer noch kaum sichere Beweise dafür, dass sich durch Mikrokredite die Lebensumstände der Kreditnehmer tatsächlich in nennenswertem Umfang verbessern.« 2 Die Probleme sind zu zahlreich, um sie hier alle aufzuführen. Wer Interesse hat, sollte das kürzlich erschienene, hervorragende Buch Why Doesn’t Microfinance Work? von Milford Bateman lesen. 3 Die für unsere Diskussion wichtigsten Punkte sind jedoch nachfolgend skizziert.
    Die Mikrofinanzindustrie hat sich stets damit gebrüstet, ihre Tätigkeit werfe auch ohne Regierungssubventionen und internationale Spenden Profite ab – abgesehen vielleicht von einer kurzen Anfangsphase. Einige haben das als Beweis dafür gesehen, dass die Armen die Spielregeln des Marktes ebenso gut beherrschen wie alle anderen, wenn man sie nur lässt. Es stellt sich jedoch heraus, dass die Mikrofinanzinstitute ohne die Unterstützung von Staaten und internationalen Spendern fast schon Wucherzinsen verlangen müssen und zum Teil auch verlangt haben. Die Grameen Bank konnte anfänglich nur deshalb so moderate Zinssätze bieten, weil die Regierung von Bangladesch und internationale Geldgeber sie mit Mitteln unterstützten. Diese Tatsache war lange vertuscht worden. Werden Mikrofinanzinstitutionen nicht subventioniert, so müssen sie in der Regel Zinssätze von 40 bis 50 Prozent verlangen, in Ländern wie Mexiko sogar 80 bis 100 Prozent. Als die Grameen Bank Ende der Neunziger unter Druck geriet, auf Subventionen zu verzichten, musste sie 2001 neu an den Markt gehen – mit Zinssätzen von 40 bis 50 Prozent.
    Bei Zinsen von bis zu 100 Prozent gelingt es nur wenigen Unternehmen, die für eine Rückzahlung der Kredite notwendigen Gewinne einzufahren. Also wurde ein Großteil der von Mikrofinanzinstituten vergebenen Kredite (in manchen Fällen bis zu 90 Prozent) dazu verwendet, individuelle Schwankungen des Finanzbedarfs auszugleichen – die Menschen nahmen kurzfristig Geld auf, um

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