23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Unternehmertum zu bündeln.
Unser Begriff des Unternehmertums ist stark beeinflusst von kapitalistischer Folklore, Figuren wie Thomas Edison oder Bill Gates und nicht zuletzt durch die wegweisende Arbeit des aus Österreich stammenden Harvard-Wirtschaftsprofessors Joseph Schumpeter. Wir gehen daher von einer viel zu individualistischen Sichtweise aus – Unternehmertum ist, was diese heldenhaften, mit außergewöhnlichem Weitblick und immenser Willenskraft ausgestatteten Individuen tun. Daraus folgern wir, dass es jeder, der sich genug anstrengt, zu geschäftlichem Erfolg bringen kann. Selbst wenn das stimmen würde, gehört dieser individualistische Begriff des Unternehmertums jedoch längst der Vergangenheit an. Im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung ist das Unternehmertum zu einer zunehmend kollektiven Angelegenheit geworden.
Zunächst einmal sind selbst außergewöhnliche Individuen wie Edison und Gates nur zu dem geworden, was sie geworden sind, weil sie dabei von einer ganzen Reihe kollektiver Institutionen unterstützt wurden: die gesamte wissenschaftliche Infrastruktur, die ihnen ermöglichte, sich Wissen anzueignen und damit zu experimentieren; das Gesellschaftsrecht und andere Wirtschaftsgesetze, die ihnen ermöglichten, nach und nach große Unternehmen mit einer komplexen Organisationsstruktur aufzubauen; das Bildungssystem, das hoch qualifizierte Wissenschaftler, Ingenieure, Manager und Arbeiter bereitstellte, die in diesen Unternehmen arbeiteten; das Finanzsystem, das es ihnen ermöglichte, riesige Summen Geldes aufzubringen, wenn sie expandieren wollten; die Patentund Urheberrechte, die ihre Erfindungen schützten; der leicht zugängliche Markt für ihre Produkte und so weiter.
In den reichen Ländern arbeiten die Unternehmen zudem weitaus enger zusammen als ihre Gegenstücke in armen Ländern, selbst wenn sie in ähnlichen Industriezweigen operieren. Ein Beispiel: Die Milch verarbeitende Industrie in Ländern wie Dänemark, den Niederlanden und Deutschland ist nur zu dem geworden, was sie heute ist, weil sich die Bauern mit staatlicher Hilfe genossenschaftlich organisierten und gemeinsam in Verarbeitungstechnik (etwa Entrahmungsmaschinen) und Überseevermarktung investieren. Die Milchwirtschaft in den Balkanländern hingegen hat sich trotz stattlicher Mikrokredite nicht weiterentwickelt, weil sämtliche Milchbauern den Alleingang versuchten. Ein weiteres Beispiel: Viele kleine Firmen in Italien und Deutschland investieren über staatlich geförderte Industrieverbände gemeinschaftlich in Forschung, Entwicklung und Exportmarketing. Diese Investitionen gehen weit über die finanziellen Mittel der einzelnen Mitglieder hinaus. Typische Entwicklungsländer investieren kaum in diese Bereiche, weil sie nicht über vergleichbare kollektive Strukturen verfügen.
Sogar auf Firmenniveau ist das Unternehmertum in den reichen Ländern heute weitgehend kollektiv. Unternehmen werden kaum noch von charismatischen Visionären wie Edison oder Gates geleitet, sondern von professionellen Managern. Bereits in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts war sich Schumpeter dieser Entwicklung bewusst, obgleich er nicht besonders glücklich darüber war. Die wachsende Fülle moderner Technologien, so stellte er fest, mache es nahezu unmöglich, dass große Unternehmen noch von einem einzelnen visionären Unternehmer gegründet und geleitet würden. Schumpeter sagte voraus, dass die Verdrängung des »heroischen« Unternehmers durch professionelle Manager dem Kapitalismus die Dynamik entziehen und in letzter Konsequenz zu dessen Niedergang führen werde (siehe Nr. 2).
In dieser Hinsicht ist Schumpeter widerlegt worden. Während des letzten Jahrhunderts ist der alte Unternehmertyp immer mehr zur Ausnahme geworden. Der Prozess der Innovation bei Produkten, Herstellung und Marketing – den Schlüsselbereichen des Schumpeter’schen Unternehmertums – ist seinem Wesen nach zunehmend »kollektivistisch« geworden. Trotzdem ist die Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zu der Zeit davor wesentlich schneller gewachsen. Im Fall Japans haben die Firmen sogar institutionelle Mechanismen entwickelt, um ihr kreatives Potenzial bis hinunter zum Fließbandarbeiter nutzen zu können. Viele schreiben den Erfolg japanischer Firmen wenigstens teilweise diesem Charakteristikum zu (siehe Nr. 5).
Wenn das Unternehmertum jemals eine rein individuelle Angelegenheit war, dann war spätestens im 20. Jahrhundert Schluss
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