23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
schleppende wirtschaftliche Dynamik in manchen Ländern ist der Mangel an Unternehmergeist. Solange die Menschen, die in armen Ländern ziellos vor sich hintrödeln, nicht ihre Einstellung ändern und aktiv nach neuen Möglichkeiten der Gewinnerzielung Ausschau halten, werden sich diese Länder nicht weiterentwickeln.
Was sie uns verschweigen
Menschen in armen Ländern müssen allein schon deshalb sehr unternehmerisch denken, weil sie sonst gar nicht überleben könnten. In einem Entwicklungsland kommen auf jeden Faulenzer zwei oder drei Kinder, die als Schuhputzer arbeiten, und vier oder fünf andere, die irgendwelchen Kram verhökern. Die Armut der armen Länder ist nicht darin begründet, dass es dem Einzelnen an unternehmerischem Geist mangelt, sondern in einem Mangel an Produktionstechnologien und funktionierenden gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere modernen Firmen. Die immer offensichtlicher werdenden Probleme mit Mikrokrediten – sehr kleine Darlehen für die Armen in Entwicklungsländern mit dem erklärten Ziel, sie dadurch beim Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz zu unterstützen – zeigen die Grenzen individuellen Unternehmertums. Insbesondere im letzten Jahrhundert ist das Unternehmertum zu einer kollektiven Aktivität geworden, sodass unzureichende Organisationsstrukturen mittlerweile ein größeres Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung darstellen als der mangelnde Unternehmergeist Einzelner.
Das Problem mit den Franzosen …
Der frühere US-Präsident George W. Bush soll sich einmal beklagt haben, das Problem mit den Franzosen sei, dass es in ihrer Sprache kein Wort für Unternehmertum gebe. Sein Französisch war vielleicht nicht gerade tipptopp, doch brachte Bush damit ein ziemlich weit verbreitetes angloamerikanisches Vorurteil gegenüber Frankreich zum Ausdruck, das man gern für ein undynamisches, rückwärts gerichtetes Land voll fauler Arbeiter, Schafbauern, linker Möchtegernintellektueller, unfähiger Bürokraten und arroganter Kellner hielt.
Bushs Frankreichbild mag zutreffen oder nicht (mehr dazu später und in Nr. 10), doch ist der Grundtenor hinter seiner Aussage allgemein anerkannt – für eine brummende Volkswirtschaft braucht man unternehmerische Leute. Dieser Ansicht nach ist der mangelnde Unternehmergeist in den Entwicklungsländern schuld an der Armut dort. »Seht euch doch bloß an, wie alle diese Männer da herumsitzen und ihre elfte Tasse Pfefferminztee am Tag trinken«, sagen die Beobachter aus reichen Ländern. »So werden sie ihre Armut nie überwinden. Diesen Ländern fehlt es an Leuten, die ordentlich zupacken und etwas auf die Beine stellen können.«
Jeder, der aus einem Entwicklungsland stammt oder eine Zeit lang in einem solchen Land gelebt hat, wird wissen, dass es dort von Unternehmern nur so wimmelt. Auf den Straßen armer Länder begegnet man Männern, Frauen und Kindern aller Altersgruppen, die alles verkaufen, was man sich nur vorstellen kann – auch Dinge, von denen man nicht einmal wusste, dass man sie kaufen kann. In vielen armen Ländern kann man zum Beispiel einen Platz in der Schlange vor der Visaabteilung der amerikanischen Botschaft kaufen (angeboten von professionellen Schlangestehern), einen »Bewachungsdienst« für auf der Straße abgestellte Autos (soll heißen: »Ich beschädige Ihren Wagen nicht«), das Recht, an einer bestimmten Ecke einen Snackstand aufzubauen (möglicherweise ein Angebot der korrupten lokalen Polizeibehörden), und sogar ein Fleckchen Erde, auf dem man betteln darf (verkauft von örtlichen Ganoven). Das alles sind Produkte menschlichen Einfallsreichtums und Unternehmergeistes.
Im Gegensatz dazu sind die meisten Menschen in den reichen Ländern weit davon entfernt, unternehmerisch zu handeln. In der Regel arbeiten sie für Unternehmen mit bis zu Zehntausenden Beschäftigten, wo sie hoch spezialisierte und eng definierte Tätigkeiten verrichten. Manche von ihnen träumen oder reden zumindest großspurig davon, selbst eine eigene Firma zu gründen und ihr »eigener Chef« zu sein, doch die wenigsten setzen es in die Tat um, weil es viel zu schwierig und riskant ist. Folglich verbringen die meisten Menschen in den reichen Ländern ihr gesamtes Arbeitsleben damit, die unternehmerische Vision anderer umzusetzen anstatt ihre eigene.
Das Fazit ist, dass die Menschen in den Entwicklungsländern viel unternehmerischer sind als die Menschen in den entwickelten Ländern. Einer OECD-Studie zufolge sind 30 bis 50
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