23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
möglichst hoch mechanisierte Produktionstechnologien einsetzten, selbst wenn diese nicht die wirtschaftlichsten seien. Dadurch werde der einzelne Arbeiter ersetzbarer und somit einfacher zu kontrollieren. 7 Was auch immer der genaue Grund für den Mechanisierungsprozess sein mag – aus alledem lässt sich jedenfalls schließen, dass die technologisch höher entwickelten Länder unterm Strich weniger gebildete Menschen benötigen.
Das Schweizer Paradoxon
Man könnte nun sagen, dass die wirtschaftliche Entwicklung vielleicht nicht unbedingt einen höheren Bildungsstand des einzelnen Arbeitnehmers erfordert, dafür aber mehr gebildete Leute an der Spitze gebraucht werden. Wie bereits ausgeführt, wird ein Land dann reicher als andere, wenn es ihm gelingt, mehr produktives Wissen zu schaffen als andere. Aus diesem Blickwinkel heraus könnte man nun behaupten, dass die Qualität der Universitäten – und nicht die der Grundschulen – über die Prosperität einer Nation entscheidet.
Doch selbst in dieser vermeintlich vom Wissen bestimmten Ära gibt es keine direkte Beziehung zwischen höherer Bildung und nationalem Wohlstand. Nehmen wir einmal das verblüffende Beispiel der Schweiz. Das Land zählt zum kleinen Kreis der reichsten und am meisten industrialisierten Länder der Welt (siehe Nr. 9 und 10), doch weist es überraschenderweise die weltweit niedrigste Immatrikulationsquote an den Universitäten auf. Bis Anfang der Neunzigerjahre betrug sie nur etwa ein Drittel des Durchschnitts anderer reicher Länder. Noch 1996 erreichte die Immatrikulationsquote in der Schweiz nicht einmal die Hälfte des OECD-Durchschnitts (16 Prozent und 34 Prozent). 8 Seitdem hat die Schweiz ihre Quote deutlich erhöht und UNESCO-Daten zufolge bis 2007 auf 47 Prozent gesteigert. Trotzdem bleibt die Schweizer Immatrikulationsquote die niedrigste in der reichen Welt und hinkt den Spitzenreitern Finnland (94 Prozent), den USA (82 Prozent) und Dänemark (80 Prozent) weit hinterher. Interessanterweise ist die Quote auch niedriger als in vielen bedeutend ärmeren Volkswirtschaften, etwa Korea (96 Prozent), Griechenland (91 Prozent) und Argentinien (68 Prozent).
Wie ist es möglich, dass die Schweiz, gemessen an ihrer Produktivität, in der internationalen Topliga spielt, obwohl dort ein weitaus geringerer Prozentsatz der altersgleichen Bevölkerung eine höhere Bildung genießt als in den wichtigsten Wettbewerberstaaten und sogar vielen wesentlich ärmeren Volkswirtschaften?
Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass sich die Universitätsausbildung in verschiedenen Ländern qualitativ unterscheidet. Wenn also koreanische und litauische Universitäten nicht so gut wären wie die Hochschulen in der Schweiz, wäre es durchaus denkbar, dass die Schweiz reicher ist als Korea oder Litauen, obwohl weniger Schweizer ein Universitätsstudium absolviert haben als Koreaner oder Litauer. Dieses Argument verliert jedoch an Kraft, wenn man die Schweiz mit Finnland oder den USA vergleicht. Wir können nicht allen Ernstes annehmen, dass die Schweizer Universitäten so viel besser sind als die finnischen oder amerikanischen, damit dies die vergleichsweise niedrige Immatrikulationsquote der Schweiz (etwa die Hälfte) rechtfertigen würde.
Der Hauptgrund für das »Schweizer Paradoxon« findet sich wieder einmal in den wenig produktivitätsorientierten Bildungsinhalten. Im Gegensatz zur Primar- und Sekundarstufe geht es bei der »nichtproduktiven« Komponente der höheren Bildung allerdings nicht in erster Linie darum, die Menschen in Fächern zu unterrichten, die ihnen bei der Selbstverwirklichung helfen, sie in ihrer nationalen Identität stärken oder brave Bürger aus ihnen machen. Vielmehr findet hier ein Prozess statt, den die Ökonomen als »Sortierfunktion« bezeichnen.
Freilich erwerben diejenigen, die in den Genuss einer höheren Bildung gelangen, auch ein gewisses Maß an produktivitätsorientiertem Wissen. Eine wichtige Funktion ist daneben aber auch, dass hier der spätere »Marktwert« des Einzelnen festgelegt wird. 9 In vielen Bereichen zählen allgemeine Intelligenz, Disziplin und die Fähigkeit zu organisiertem Arbeiten weit mehr als Spezialwissen, welches man sich zum großen Teil erst im Berufsleben aneignet. Was man im Geschichtsoder Chemiestudium an der Universität gelernt hat, ist für die spätere Tätigkeit als Manager in einem Versicherungsunternehmen oder als Regierungsangestellter im Verkehrsministerium kaum von Bedeutung. Doch
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