23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Muskelkraft die Hauptquelle des Wohlstands darstellte. Solchermaßen dachten immer mehr Menschen.
Das Argument scheint zunächst recht überzeugend. Gebildetere Menschen sind produktiver – ein Beweis dafür sind die höheren Gehälter, die sie beziehen. Nach mathematischer Logik folgt daraus, dass auch eine Volkswirtschaft aus gebildeteren Menschen automatisch produktiver ist. Dafür spricht unter anderem die Tatsache, dass ärmere Länder über ein kleineres Reservoir an gebildeten Menschen verfügen – sie haben weniger »Humankapital«, wie manche Ökonomen es formulieren. In OECD-Staaten beträgt die durchschnittliche Schulbildung neun Jahre, während Kinder in den subsaharischen Ländern Afrikas nicht einmal drei Jahre lang die Schule besuchen. Ebenso viel zitiert sind die außergewöhnlich hohen Errungenschaften der Bildungspolitik in den »Wundervolkswirtschaften« Ostasiens – etwa in Japan, Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur. Diese Errungenschaften manifestieren sich nicht nur quantitativ, also in einer geringen Analphabetenquote oder den Aufnahmezahlen der verschiedensten Bildungseinrichtungen. Auch die Qualität der Bildung ist sehr hoch. In international standardisierten Tests spielen diese Staaten in der obersten Liga. Zu den Tests zählen zum Beispiel die Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) für Viert- und Achtklässler oder das Program for International Student Assessment (PISA), bei dem beispielsweise überprüft wird, wie gut 15-Jährige mathematisches Wissen auf Alltagsprobleme anwenden können. Muss man noch mehr sagen?
»We don’t need no education …«
Die Bedeutung der Bildung für die Produktivität einer Volkswirtschaft mag selbstverständlich erscheinen. Tatsächlich aber gibt es eine ganze Reihe von Anhaltspunkten dafür, dass man diese gängige Meinung infrage stellen sollte.
Betrachten wir zunächst den Fall der ostasiatischen Wunder volkswirtschaften, bei deren Entwicklung die Bildung angeblich eine übergeordnete Rolle gespielt hat. Im Jahr 1960 hatte Taiwan eine Analphabetenquote von 56 Prozent, auf den Philippinen betrug sie lediglich 28 Prozent. Trotz des niedrigeren Bildungsniveaus hatte Taiwan seitdem eine der besten Wirtschaftswachstumsraten der Menschheitsgeschichte aufzuweisen, die Philippinen indes dümpelten ökonomisch vor sich hin. Im Jahr 1960 war das Pro-Kopf-Einkommen der Philippinen beinahe doppelt so hoch wie das Taiwans (200 und 122 US-Dollar), heute hingegen ist das taiwanesische Pro-Kopf-Einkommen etwa zehnmal so hoch wie das der Philippinen (18 000 und 1800 Dollar). Im selben Jahr hatte Korea eine Analphabetenquote von 29 Prozent – vergleichbar mit der philippinischen, aber immer noch weit hinter Argentinien mit 9 Prozent. Trotz dieser bedeutend höheren Analphabetenquote ist die Wirtschaft Koreas seither viel schneller gewachsen als die argentinische. Das koreanische Pro-Kopf-Einkommen betrug 1960 etwas mehr als ein Fünftel des argentinischen (82 und 378 Dollar). Heute ist es dreimal so hoch (etwa 21 000 und 7000 Dollar).
Offenbar gibt es neben der Bildung noch viele andere Dinge, die das Wirtschaftswachstum eines Landes beeinflussen. Diese Beispiele untergraben den weitverbreiteten Irrglauben, Bildung sei der Schlüssel zum ostasiatischen Wirtschaftswunder. Die ostasiatischen Volkswirtschaften hatten zu Beginn dieses Wirtschaftswunders eben gerade kein ungewöhnlich hohes Bildungsniveau, wohingegen Länder wie die Philippinen und Argentinien trotz ihres bedeutend höheren Bildungsstandes kaum Fortschritte machten.
Andererseits zeigt uns Schwarzafrika, dass Mehrinvestitionen in die Bildung noch lange keine Garantie für bessere Wirtschaftsdaten sind. Zwischen 1980 und 2004 sank die Analphabetenquote bedeutend, und zwar von 60 auf 39 Prozent. 1 Trotz dieser Zahlen aber fiel das tatsächliche Pro-Kopf-Einkommen in der Region während dieser Zeit um 0,3 Prozent jährlich. Wenn die Bildung also so wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung ist, wie die meisten von uns glauben, dann dürfte so etwas eigentlich nicht passieren.
Die offensichtlich geringen positiven Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum sind nicht nur in den von mir gewählten Extremfällen feststellbar – Ostasien am oberen Ende der Skala und das subsaharische Afrika am unteren. Es ist vielmehr ein weitverbreitetes Phänomen. Der Harvard-Ökonom Lant Pritchett, der lange Zeit für die Weltbank tätig war, analysierte die Daten Dutzender reicher
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