23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
allein die Tatsache, dass man eine Universitätsausbildung abgeschlossen hat, signalisiert einem potenziellen Arbeitgeber, dass man wahrscheinlich klüger, disziplinierter und besser organisiert ist als andere ohne einen entsprechenden Abschluss. Wer einen Universitätsabgänger einstellt, tut dies meist aufgrund dieser allgemeinen Qualifikationen und nicht, weil man über Spezialwissen verfügt, das für den später ausgeübten Beruf ohnehin meist irrelevant ist.
In letzter Zeit wurde der höheren Bildung immer größere Bedeutung beigemessen. Daraus hat sich in vielen Ländern mit hohen oder überdurchschnittlichen Einkommen, die sich einen Ausbau ihres Universitätssystems leisten können, ein für die höhere Bildung ungesunder Trend entwickelt (auch die Schweiz ist dagegen nicht immun gewesen, wie die obigen Zahlen erkennen lassen). Wenn der Anteil derer, die eine Universität besuchen, eine kritische Schwelle erst einmal überschritten hat, müssen die Menschen studieren, um überhaupt noch einen ordentlichen Job zu bekommen. Wenn, sagen wir, 70 Prozent der altersgleichen Bevölkerung die Universität besuchen, bedeutet das für die restlichen 30 Prozent implizit, dass sie sich mit ihren Fähigkeiten im unteren Drittel bewegen, was nicht gerade ein idealer Ausgangspunkt für die Jobsuche ist. Also strömen die Leute an die Universitäten, obwohl sie ganz genau wissen, dass sie ihre Zeit verschwenden, indem sie Dinge lernen, die sie für ihre Arbeit niemals brauchen werden. Wenn aber alles an die Universitäten drängt, steigert sich die Nachfrage nach höherer Bildung, was wiederum zu einem Ausbau der Universitäten führt, die Immatrikulationsquote in die Höhe treibt und den gesellschaftlichen Druck, ein Studium aufzunehmen, noch verstärkt. Mit der Zeit führt das zu einer wahren Inflation bei den Abschlüssen. Heute, wo »jeder seinen Universitätsabschluss macht«, muss man schon einen Master oder sogar einen Doktortitel vorweisen, um sich von der Masse abzuheben – selbst wenn diese höheren Abschlüsse inhaltlich nur von minimaler Relevanz für das spätere Berufsbild sind.
Angesichts der Tatsache, dass die nationale Produktivität der Schweiz bei einer Immatrikulationsquote von gerade 10 bis 15 Prozent bis Mitte der Neunziger zu den höchsten der Welt gehörte, könnte man sagen, dass wesentlich höhere Immatrikulationsquoten eigentlich unnötig sind. Selbst wenn man anerkennt, dass mit der Wissensökonomie die Anforderungen in vielen Berufen so gestiegen sind, dass die aktuelle Quote der Schweiz von 40-plus-Prozent inzwischen ein Minimum darstellt (was ich ernsthaft bezweifle), bedeutet das trotzdem, dass mindestens die Hälfte der universitären Bildung in Ländern wie den USA, Finnland oder Korea »verschwendet« wird, weil die »Sortierfunktion« im Wesentlichen ein Nullsummenspiel ist. Das höhere Bildungssystem in diesen Ländern ist mit einem Theater vergleichbar, in dem ein paar Zuschauer aufstehen, um besser zu sehen. Dadurch müssen andere, die hinter ihnen sitzen, ebenfalls aufstehen. Wenn genügend Leute stehen, müssen alle aufstehen, was zur Folge hat, dass keiner mehr bequem sitzt und trotzdem niemand eine bessere Sicht hat.
Bildung und Unternehmertum
Wenn also nicht nur die Schul-, sondern auch die höhere Bildung für den Wohlstand einer Nation keine besondere Rolle spielt, müssen wir die Funktion der Bildung in unserer Volkswirtschaft ernsthaft neu überdenken.
Den reichen Ländern muss ihre Bildungsbesessenheit ausgetrieben werden. Diese Besessenheit hat die Universitätsabschlüsse inflationär entwertet und dazu geführt, dass in vielen Ländern im großen Stil in höhere Bildung überinvestiert wurde. Ich bin nicht dagegen, dass sich bestimmte Länder aus anderen Gründen eine hohe oder sogar eine hundertprozentige Immatrikulationsquote leisten, aber sie sollten sich nicht einreden, dass sich dies signifikant auf die Produktivität auswirken würde.
Im Fall der Entwicklungsländer ist ein noch radikalerer Perspektivwechsel vonnöten. Zwar sollten sie ihr Bildungssystem weiter ausbauen, um ihre Jugend auf ein sinnhafteres Leben vorzubereiten. Was hingegen die Produktivitätssteigerung anbelangt, so müssen diese Länder über die individuelle Bildung hinausblicken und ein gesteigertes Augenmerk auf die Errichtung funktionierender Institutionen und Organisationen richten.
Was die reichen Länder aber wirklich von den armen unterscheidet, ist weniger, wie gebildet der
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