23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Wirtschaftspolitik. Selbst Länder wie Schweden und Deutschland, die bislang nicht indikativ planten, betrieben zumindest stellenweise eine sektorale Wirtschaftspolitik.
In den meisten kapitalistischen Ländern besitzt und betreibt die Regierung durch staatliche Betriebe einen beträchtlichen Teil der Volkswirtschaft. Staatsbetriebe finden sich regelmäßig im Bereich der Infrastruktur (etwa Eisenbahnen, Straßen, Häfen und Flughäfen) oder wichtiger Dienstleistungen (etwa Wasser, Elektrizität, Post), doch zuweilen auch in Industrie und Finanzen (Näheres über staatliche Betriebe ist im Kapitel »Der Mensch beutet den Menschen aus« meines Buchs Bad Samaritans zu lesen). Der Anteil staatlicher Betriebe an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung kann, wie im Fall von Singapur, bis zu 20 Prozent betragen, oder auch nur ein Prozent, wie in den Vereinigten Staaten. Der Durchschnitt aber liegt bei etwa 10 Prozent. Da die Regierungen die Aktivitäten staatseigener Betriebe planen, bedeutet dies, dass auch ein stattlicher Anteil der kapitalistischen Volkswirtschaften direkt geplant wird. Wenn man bedenkt, dass Staatsbetriebe üblicherweise in Bereichen operieren, die einen überproportionalen Einfluss auf die übrige Volkswirtschaft haben, dann ist die indirekte Auswirkung wirtschaftlicher Planung durch Staatsbetriebe sogar noch weitaus größer, als ihr Anteil an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung erkennen lässt.
Darüber hinaus planen in allen kapitalistischen Volkswirtschaften die Regierungen die technologische Zukunft eines Landes, indem sie Forschung und Entwicklung zu einem großen Teil (20 bis 50 Prozent) staatlich finanzieren. Interessanterweise zählen ausgerechnet die Vereinigten Staaten in diesem Zusammenhang zu den am meisten geplanten kapitalistischen Volkswirtschaften. Zwischen den Fünfzigern und den Achtzigern belief sich der jährliche Gesamtanteil der Regierungsfinanzierung im Bereich Forschung und Entwicklung regelmäßig auf 47 bis 65 Prozent – und das in der vermeintlich freien Marktwirtschaft der USA. Zum Vergleich: Für Japan und Korea beträgt dieser Anteil nur rund 20 Prozent, in einigen europäischen Ländern weniger als 40 Prozent (etwa in Belgien, Finnland, Deutschland und Schweden). 1 Seit den Neunzigerjahren sind diese Zahlen in den USA gesunken, da ein großer Teil der vom Militär finanzierten Forschung und Entwicklung mit dem Ende des Kalten Krieges wegfiel. Dennoch ist der Anteil, den die US-Regierung an diesem Schlüsselbereich hat, immer noch höher als in anderen kapitalistischen Volkswirtschaften. Es ist bemerkenswert, dass die meisten Industrien, in denen die Vereinigten Staaten international eine Führungsposition einnehmen, diejenigen sind, die entweder aus Mitteln des Militärs (etwa Computer, Halbleiter, Flugzeuge) oder aus dem Gesundheitsetat (beispielsweise Biotechnologie, Medikamente) großzügig finanziert wurden.
Freilich hat sich der Umfang staatlicher Planung in den meisten kapitalistischen Volkswirtschaften seit den Achtzigerjahren verringert, nicht zuletzt deshalb, weil sich in diesem Zeitraum eine zunehmend marktfreundliche Ideologie herausbildete. Die indikative Planung wurde in den meisten Ländern nicht länger praktiziert, auch nicht in jenen, die damit Erfolge erzielt hatten. In vielen, wenngleich nicht allen Ländern mündete die Privatisierung in einem sinkenden Anteil staatlicher Betriebe an der nationalen Gesamtleistung und den Investitionen. Der Anteil staatlicher Finanzierung bei Forschung und Entwicklung ist in praktisch allen kapitalistischen Ländern gesunken, allerdings in den meisten Fällen nicht besonders stark. Ich behaupte jedoch, dass trotz des jüngsten relativen Rückgangs staatlicher Planung in den kapitalistischen Volkswirtschaften immer noch extensiv und sogar in zunehmendem Maße geplant wird. Warum sage ich das?
Planen oder nicht planen – das ist nicht die Frage
Stellen wir uns einmal vor, ein neuer Manager finge bei einem Unternehmen an und sagte: »Ich glaube an die Kräfte des Marktes. In dieser sich ständig wandelnden Welt sollten wir keine feste Strategie haben, sondern uns ein Höchstmaß an Flexibilität bewahren. Daher wird sich von jetzt an jeder in diesem Unternehmen nach veränderlichen Marktpreisen richten und sich nicht etwa an irgendeinen starren Plan halten.« Was denken Sie, würde wohl passieren? Würden die Beschäftigten diese Vision als für das 21. Jahrhundert tauglich erachten? Würden die Aktionäre
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