23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Computertechnologie wuchsen mit der wirtschaftlichen Entwicklung freilich auch die planerischen Fähigkeiten. Dieser Zuwachs reichte jedoch nicht aus, um der immer komplexeren Volkswirtschaft gerecht zu werden.
Eine naheliegende Lösung war es, die Produktpalette zu begrenzen, doch hatte dies eine gefährliche Unzufriedenheit der Konsumenten zur Folge. Außerdem war die Volkswirtschaft trotz dieses eingeschränkten Angebots immer noch zu komplex, als dass man sie hätte planen können. Viele Güter, die produziert wurden, blieben liegen, weil sie niemand brauchte. Andernorts hingegen herrschte Knappheit, was zu den allgegenwärtigen Schlangen führte. Als der Kommunismus Anfang der Achtzigerjahre ins Trudeln geriet, herrschte großer Zynismus über ein System, dem es immer weniger gelang, seine Versprechen einzulösen. In den kommunistischen Ländern »tun wir so, als arbeiteten wir, und sie tun so, als bezahlten sie uns«, lautete ein beliebter Witz.
Kein Wunder also, dass nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Verdrängen der kommunistischen Parteien im gesamten Ostblock auch der zentralen Planwirtschaft auf breiter Front eine Absage erteilt wurde. Selbst Länder wie China und Vietnam, die den Kommunismus ostentativ aufrechterhielten, haben nach und nach Abstriche an der Planwirtschaft gemacht, wenngleich der Staat dort immer noch zu einem hohen Grad die Volkswirtschaft kontrolliert. Heute leben wir also alle in Marktwirtschaften (na gut, außer in Nordkorea oder Kuba vielleicht). Niemand plant mehr. Richtig?
Es gibt Planung und Planung
Die Tatsache, dass der Kommunismus mehr oder weniger verschwunden ist, bedeutet nicht, dass es keine Planung mehr gibt. Regierungen in kapitalistischen Volkswirtschaften planen ebenfalls, wenngleich nicht auf so umfassende Weise, wie die zentralen Planungskomitees in den kommunistischen Ländern es früher taten.
Selbst in einer kapitalistischen Volkswirtschaft gibt es Situationen, in denen eine zentrale Planung effektiver ist, beispielsweise im Krieg. Während des Zweiten Weltkriegs etwa waren die Volkswirtschaften der größten kapitalistischen Teilnehmerstaaten – der USA, Großbritanniens und Deutschlands – allesamt zentral geplant, wenn man es auch anders nannte.
Wichtiger noch ist, dass viele kapitalistische Länder die sogenannte »indikative Planung« mit großem Erfolg angewandt haben. Bei dieser Form der Planung setzt die Regierung eines kapitalistischen Landes einige wichtige, die wirtschaftlichen Schlüsselvariablen betreffende Hauptziele (etwa die Investition in strategische Industrien, die Entwicklung der Infrastruktur oder Exporte) und arbeitet zu ihrer Verwirklichung mit der Privatwirtschaft zusammen, anstatt gegen sie. Im Gegensatz zur zentralen Planwirtschaft sind diese Ziele nicht per Gesetz verbindlich, daher das Adjektiv »indikativ«. Die Regierung gibt jedoch ihr Bestes, um sie zu erreichen, indem sie zahlreiche Anreize schafft (etwa Subventionen, Monopolrechte) und die ihr zur Verfügung stehenden Eingriffsmöglichkeiten nutzt (Regulierungen, Einfluss durch Staatsbanken).
Durch indikative Planung förderte Frankreich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren mit großem Erfolg Investitionen und technologische Innovation. Dabei wurde sogar Großbritannien als zweitgrößte Wirtschaftsmacht Europas überholt. Andere europäische Länder wie Finnland, Norwegen und Österreich setzten zwischen den Fünfziger- und Siebzigerjahren ebenfalls auf indikative Planung, um ihre Volkswirtschaften auf Vordermann zu bringen. Das soll nicht heißen, dass die indikative Planung stets erfolgreich gewesen ist. In Indien zum Beispiel war dies nicht der Fall. Trotzdem zeigen die europäischen und ostasiatischen Beispiele, dass bestimmte Formen der Planung nicht unvereinbar mit dem Kapitalismus sind und die kapitalistische Entwicklung sogar vorantreiben können.
Selbst wenn die gesamte Volkswirtschaft nicht explizit geplant wird, nicht einmal indikativ, stellen die Regierungen der meisten kapitalistischen Länder doch Pläne für bestimmte Schlüsselaktivitäten auf, die meist auch umgesetzt werden und Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft haben können (siehe Nr. 12).
Die Mehrheit der kapitalistischen Regierungen plant und koordiniert die Zukunft einiger Schlüsselindustrien. Dies bezeichnet man als »sektorale« Wirtschaftspolitik. Die europäischen und ostasiatischen Länder, die eine indikative Planung betrieben, praktizierten sämtlich auch eine sektorale
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