230 - Gilam'esh'gad
um dort zu verharren und abzuwarten.
Da es bei den momentanen Sichtverhältnissen zwecklos war, die Fahrt fortzusetzen, haderte Matt nicht mit seinem Schicksal, sondern beobachtete aufmerksam die nähere Umgebung. War die Gefahr vorbei, oder machte sich irgendwo in den finsteren Abgründen die nächste bereit zur Attacke?
Obwohl das Seebeben ihn möglicherweise gerettet hatte, war Matt keineswegs guter Laune. Das Wasser war nicht sein Element. Ein Leben unter Wasser schon gar nicht. Wenn es in dem bionetischen Lebewesen, das ihn hierher gebracht hatte, schon eng war, so war es in seinem Tauchanzug geradezu klaustrophobisch.
Die Bionetik war und blieb für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. In Sub’Sisco hatte man damals sogar herausgefunden, dass der Baustoff der Hydriten ein eigenes Bewusstsein besaß – und vielleicht sogar eine Seele? [3] An ausgefeilte Hochleistungs- und Präzisionstechnik gewöhnt, misstraute Matthew Drax instinktiv jeder Technik, die auf anderen Grundlagen basierte, zumal auf halborganischen.
Na schön, der Himmel konnte ihm hier unten nicht auf den Kopf fallen, aber der Gedanke, sein Fahrzeug verlassen zu müssen, um sich in den von Saugnäpfen wimmelnden Fangarmen eines Tiefseekraken wieder zu finden, hätte auch den phantasielosesten Zweibeiner das Frösteln gelehrt.
Was hatte das Seebeben ausgelöst? In unmittelbarer Nachbarschaft der Stadt rieben seit Urzeiten zwei tektonische Platten aneinander. Beben waren in dieser Gegend bestimmt nichts Ungewöhnliches. Aber im Normalfall hielten sich hier auch keine Oberflächenbewohner auf, die zu Schaden kamen, wenn die Vibrationen Muschelhäuser und Paläste in ihre Bestandteile zerlegten.
Matt schüttelte die unproduktiven Gedanken ab; ändern konnte er an der Situation ohnehin nichts. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Er reckte den Hals und schaute aus dem Bugfenster. Die Unterwasserwelt klärte sich unendlich langsam. Er konnte seit der Rückwärtsfahrt eigentlich kaum einen Fortschritt erkennen. Kein Wunder; die Strömung in Gilam’esh’gad war nicht sonderlich stark.
Aber konnte hier nicht Däumchen drehen. Er dachte an Yann, der darauf wartete, dass er von seinem Tumor befreit wurde, und an dessen »Untermieter«, die darauf hofften, bald in neue Klonkörper umzuziehen. Vor allem aber dachte er an die Antarktiswaffe, den Flächenräumer der alten Hydriten. Irgendjemand hatte die Konstruktionspläne aus seiner Unterkunft gestohlen. Ob er damit etwas anfangen konnte, war zwar fraglich – ein Hydrit am Südpol erweckte die Assoziation eines tiefgekühlten Fischstäbchens in Matt –, trotzdem war es nicht auszuschließen. Matt vermutete, dass es der geheimnisvolle Wächter selbst gewesen war.
Nun, wenn er den Hauptschalter, der die Stadt mit Licht und Wärme erfüllen und aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken würde, gefunden hatte, würde der Alte Rede und Antwort stehen müssen…
Apropos Dornröschenschlaf: Matt merkte, wie ihn zunehmend Trägheit übermannte. Die lange Fahrt, die Aufregung der letzten Stunde, das Agieren in dem bionetischen Tauchanzug… das alles hatte an seinen Kräften gezehrt.
Sein müder Blick wanderte über die finstere Unterwasserlandschaft. Er gähnte und murmelte: »Nur ein Viertelstündchen.«
Damit ließ er sich an der »Bordwand« entlang auf den Boden sinken, schloss er die Augen und war von einer Sekunde auf die nächste eingeschlafen.
Wäre er wach geblieben, hätte er etwas gesehen, das ihn nachdenklich gemacht hätte: Durch das stark getrübte Wasser, das die ruhende Qualle umgab, glitten sechs, sieben, acht eigenartig verwachsene Gestalten auf das Bugfenster zu.
Sie warfen einen Blick ins Innere des halborganischen U-Bootes und musterten den merkwürdigen Fremdling. Dann schauten sie sich an, gestikulierten und zogen sich zurück.
***
Nordpazifischer Ozean, südlich der Midway-Inseln
»Das ist unmöglich! Das gibt es nicht!« Agat’ol, der Mar’os-Hydrit, starrte entsetzt durch das Sichtfenster der Rettungsqualle. Im Widerglanz der bionetischen Scheinwerfer zeichnete sich dort eine Form ab, die er nie mehr zu sehen gehofft hatte.
Zehn Tage lang war diese Hoffnung gewachsen, je weiter er sich in der bockigen Qualle vom Marianengraben und Gilam’esh’gad nach Osten entfernt hatte. Inzwischen hatte er nicht mehr geglaubt, dass der Saurier ihm gefolgt wäre.
Aber genau das war der Fall! Die Bestie musste sich, nachdem sie sich an dem Rochenschwarm satt gefressen hatte, der größten
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