230 - Gilam'esh'gad
»Wir sind ebenso missraten wie diese bionetischen Gebäude, die man beim Bau der Stadt ausgemustert hat. Wir sind nur Ausschuss – Material, das niemand braucht.«
Matts Mund blieb offen stehen. Die Worte seines Gegenübers hatten ihn tief bewegt. Diese Wesen schätzten sich also selbst als so gering ein, dass sie auf einer Müllhalde lebten, so versteckt in dieser Nebenhöhle, dass niemand sonst in Gilam’esh’gad von ihrer Existenz wusste? Er setzte mehrmals zum Sprechen an, ohne dass ein Wort über seine Lippen kam. Was hätte er auch sagen sollen?
Der Sprecher – der Hydrit, der ihn mit dem Schwamm in Verbindung gebracht hatte – kam näher. Matt sah Trauer in seinem Blick.
»Ich bin Narot’la«, sagte er. »Du behauptest, einer der unseren hätte dich unsere Sprache gelehrt. Dann kennst du gewiss auch die Geschichte unseres Volkes.«
»In groben Zügen, ja.« Matt nickte. »So weit, wie man einen Freund einweihen würde.« Dass er noch viel mehr von der Historie der Hydriten wusste als die meisten des unterseeischen Volkes selbst, verschwieg er. Dass sie einst als Hydree vom Mars gekommen waren, klang so unglaublich, dass er damit seine Aufrichtigkeit in Frage gestellt hätte.
»In einem hast du recht«, fuhr Narot’la fort. »Unsere Ahnen waren Hydriten. Sie überlebten vor Unzeiten einen Anschlag infizierter Mar’os-Anhänger. Aber sie trugen schwere genetische Schäden davon, die uns, ihre Nachkommen, grässlich entstellten. Deswegen haben wir kein Recht mehr, uns Hydriten zu nennen. Deswegen fristen wir unser Dasein in diesem Teil der Stadt, in den man damals auch alle anderen Fehlentwicklungen entsorgt hat. Wir sind der gleiche Abfall wie die entarteten bionetischen Gebäude, die du überall hier siehst. Wir sind eine Schande für die Stadt des Gilam’esh!«
Narot’la deutete auf seine Gefährten. »Zum Glück waren die meisten Nachkommen unserer Ahnen steril. Unsere Unfruchtbarkeit nahm mit jeder Generation zu. Heute sind wir nur noch so wenige, dass wir uns alle untereinander kennen.« Er ließ traurig den Kopf hängen. »Und es ist abzusehen, dass bald keiner mehr von uns da ist.« Er deutete auf den Tunnel, durch den Matt in ihr Reich gelangt war. »Obwohl wir wissen, dass die Abraumhalde der Geschichte der einzig richtige Ort für uns ist, schleichen wir uns manchmal in die Stadt der Ahnen… wenn die Sehnsucht zu groß wird. Heimlich, in der Nacht.«
Matt schauderte. Narot’la und sein Volk taten ihm leid. Ihre Selbstachtung hatte sich über die Generationen in einen neurotischen Minderwertigkeitskomplex verwandelt. Erneut empfand er die Stadt in der Tiefe als bedrohlich und finster. Wie kann man auch positiv eingestellt sein und das Leben bejahen, dachte er, wenn man in ständigem Dunkel lebt?
Und schlagartig begriff er den Auftrag des Wächters: Führe die Seele Gilam’esh’gads aus dem Dunkel! Er hatte keinen Gedanken an die Energieversorgung verschwendet. Er hatte die verlorenen Kinder der Stadt gemeint! Ob er wirklich von ihnen wusste? Oder waren sie nur eine Legende, die sich nun überraschenderweise als wahr entpuppte?
Matt schaute Narot’la und die anderen an. »Es muss fürchterlich sein, wenn man sich für überflüssig hält.« Er räusperte sich. »Mein Hiersein hat aber einen Grund: Es sind Bestrebungen im Gange, Gilam’esh’gad wieder in Betrieb zu nehmen. Neben meinem guten Freund, dem Wissenschaftler Quart’ol, ist kein Geringerer als Gilam’esh selbst hier, um…«
Er stockte, als rund um ihn her erst Gemurmel, dann laute Rufe aufklangen. Und begriff, dass er den Fehler, den er eben noch bei der Erwähnung der Hydree vermieden hatte, nun doch begangen hatte.
»Blasphemie!«, rief eine Stimme, »Gotteslästerer!«, eine andere. Von einer Sekunde zur anderen schlug die Stimmung um. Sogar Narot’la rückte von ihm ab.
»Wie kannst du behaupten, der Prophet selbst wäre in Gilam’esh’gad?«, ächzte er. »Nun wissen wir, was von deinen Ausflüchten zu halten ist!«
Matt versuchte das Unvermeidlich abzuwenden, obwohl er doch wusste, dass es zu spät war. »Aber nein!«, rief er. »Es ist wahr! Kommt mit mir, um euch davon zu überzeugen!« Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass es schwierig werden würde, ihnen den alten Seher Yann zu präsentieren, in dem angeblich Gilam’eshs Geist wohnte.
»Er will uns hinauslocken!«, rief einer der verkrüppelten Hydriten. »In der Stadt warten sicher seine Freunde, um uns abzuschlachten!« Andere Stimmen schlossen
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