2304 - Schatten über Atlan-Village
sahen sie an ihm vorbei, während sie ihrer Arbeit zustrebten.
Jene Lebendigkeit, die Atlan Village in den Nachmittags- und Abendstunden ausmachte, war wie verflogen.
Straßenzüge, die nachts wunderschön anzusehen waren, Denkmäler, neckische Skulpturen, Ton- und Bildinstallationen: Dies alles wirkte im grellen Tageslicht öd und leer. Die Künstler und Lebenskünstler schliefen oder gingen gerade zu Bett. Einzig ein alter Geschichtenerzähler krakeelte lauthals auf dem Augustin-Platz, ohne Zuhörer zu finden.
Marc passierte die Stationsgrenze der „Thora-Linie" und beobachtete interessiert, wie zwei Halbwüchsige versuchten, mit gefälschten Jahres-Chips die Positronik zu überlisten. „Ihr seid zu langsam", flüsterte er kopfschüttelnd. Und richtig: An der nächsten Ecke wurden sie von Robs abgefangen und zum Stationsvorsteher geschleift.
Mehrere Stunden Sozialdienst erwarteten sie als Strafe.
Marc grinste.
Es kam aufs Tempo an. Die Positronik war auf Massenabfertigung einer sich träge bewegenden Menschenmasse ausgelegt. Sie ließ sich durch verbrauchte Jahres-Chips verwirren, sofern man mit einer Geschwindigkeit von mehr als 25 Stundenkilometern schräg durch den Bereich des Eingangsportals lief. Diesen Trick hatte er bereits als Zehnjähriger beherrscht.
Der Zubringer wartete. Hastig stieg Marc zu. Nach einem lauten Signalton beschleunigte der zigarrenförmige Körper wie ein Geschoss. Leichte Prallfelder verhinderten jegliches Ruckeln. Mit unglaublicher Präzision fügte sich ihr Waggon in jene Serie weiterer Gefährte, die mit mehr als 180 Stundenkilometern entlang der Thora Road nach Westen rasten.
Illegale fliegende Werbeschilder, die Pest der Gegenwart, passten sich an der linken und rechten Fensterfront ihrer Geschwindigkeit an, während sie ins Freie glitten. Die dazugehörigen Stimmen hackten sich ins Lautsprecher-System. Schrill, laut und enervierend verkündeten sie unerwünschte Botschaften von einer im Untergrund agierenden und verbotenen Tempelgemeinschaft der Degressionslehre, dem „Suizidkommando zum bevorstehenden Sturz Perry Rhodans" – an diese Gruppierung erinnerte sich Marc seit seiner frühesten Kindheit –, von Potenzprothesen, Alien-Prostituierten, unerlaubten Frisiersätzen für Monogleiter ...
Es war ein Tag wie jeder andere.
Sehnsüchtig blickte Marc nach rechts. Der Regenbogenflitter der Waringer-Akademie kam in Sicht. Der halbkreisförmige Bogen überstrahlte selbst an einem so trüben Tag alle anderen Gebäude.
Er war nicht der Einzige, der durch das Fenster sah. Fast alle der Fahrgäste, so gedrängt sie auch aneinander kleben mochten, starrten auf das siebenfarbige Symbol, unter dem der mehrarmige Blütenkelch mit seinen sechzehn Außenkuppeln stolz und trutzig in den Himmel ragte.
Sollte er den Waggon bei nächstbester Gelegengeit verlassen und in jenen wechseln, der zur Akademie abzweigte?
Nein.
Das Studium ging vor. Vorlesungen warteten auf ihn. Kosmopsychologie war schließlich kein Fach, das sich von selbst erlernte.
Hypnoschulung machte nur einen geringen Teil der Ausbildung aus. Vielmehr kam es auf Einfühlungsvermögen, Überwindung und Bereitschaft zur Selbstverleugnung an, wenn man in Kontakt mit fremden Völkern und Spezies trat. Wollte Marc das dritte Semester nicht endgültig hinwerfen, musste er in den letzten Wochen vor den Ferien noch einmal alles geben.
„Dort hätte ich hingehen sollen", murmelte er sehnsuchtsvoll und streichelte über das Plastglas des Waggons.
„Nicht auf die öde Uni."
„Um was zu werden?", fragte ihn ein Mann, der unmittelbar neben ihm stand. Hünenhaft war er, sicherlich zwei Meter groß. Mächtige Brüste stachen spitz nach vorne, und er roch trotz der ausgezeichneten Klimaanlage nach säuerlichem Schweiß.
„Willst wohl uns Kleinen auf dem Säckel liegen, wie?", fuhr er fort.
„Ewig lange studieren, Steuergelder verprassen, nichts leisten, wie? Um irgendwelchen Fantastereien nachzuhängen. Dem alten Rhodan wie ein ergebener Hund an den Lippen zu hängen, wenn er von Frieden, Freude und Eierkuchen in der Milchstraße erzählt."
Seine Stimme wurde immer schriller, weiblicher. „Was dabei rauskommt, konnten wir ja vor zwei Wochen erleben, als die Solare Residenz angegriffen wurde. Ich geb dir einen Tipp, Kleiner: Lern was Vernünftiges. Systeminformatiker, Posi-Techniker, Werbefachmann. Oder werde Beamter, so wie ich. Ist eine ruhige Kugel, kann ich dir sagen ..."
„Danke für die Ratschläge",
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