2309 - Die Augen von Charon
spielte ein zweidimensionales Bild auf den Monitor der Notstation. Die Hologeneratoren waren ausgefallen, auf dreidimensionale Darstellungen konnte nicht mehr zugegriffen werden. Es zeigte schwer bewaffnete Humanoiden in Raumanzügen, die sich durch einen Gang in der Peripherie des Rumpfs des Prospektoren-Kreuzers vorkämpften. „Das sind wahrscheinlich Terraner. Sie kommen aus den drei LFT-Schiffen, die wir geortet haben."
„Hätten wir die Schiffe besser doch vernichtet, als wir Gelegenheit dazu gehabt hatten!", brachte Ban Tosska knirschend hervor.
Ain Cokkry zögerte. Einerseits war ein Enterkommando in der ACARO 1033 natürlich eine Katastrophe, denn eine Kolonnen-Einheit wie der Prospektoren-Kreuzer durfte keinesfalls in Feindeshand fallen. Selbst fast völlig zerstörte Technik der Kolonne konnte den Bewohnern der Ressourcen-Galaxis noch wichtige Rückschlüsse auf TRAITOR ermöglichen.
Andererseits jedoch ... andererseits könnten die Eindringlinge auch Retter sein.
Sofern wir uns ihnen ergeben, dachte Ain Cokkry.
Einen Moment lang verspürte er Abscheu vor sich selbst. Schätzte er sein eigenes Leben höher ein als das Wohl der Kolonne ... als das Wohl TRAI-TORS? Aber was nützte sein Tod der Kolonne? Wer konnte schon sagen, welche Gelegenheiten sich bieten würden, wenn man sich dem Feind auslieferte?
Der Tod hingegen war sicher. Und unumkehrbar.
Doch die pragmatische Sichtweise setzte sich bei Ain Cokkry ganz schnell durch. „Wir werden uns den Angreifern ausliefern", sagte er.
Myk Dennso und Ban Tosska sahen ihn an. Der eine eher überrascht, dass er den Mut zu solch einer unerwarteten Entscheidung getroffen hatte, die ihnen allen das Leben retten würde - jedenfalls den wenigen, die noch da waren. Der andere nicht minder verblüfft, aber zweifelnd. War ihr Kommandeur wirklich imstande, ihrer aller Leben über TRAITOR zu stellen? ■ „Einwände?", fragte Ain Cokkry. „Nein", sagte Myk Dennso sofort. „Gut. Dann werden wir ..." Der Kommandeur verstummte. Selbst durch den dichten Rauch konnte er den dunkelroten Schimmer ausmachen, der durch die Zentrale wehte. Ein Glimmen, das nicht von der Beleuchtung oder einem Brand stammte.
Der Kolonnen-Motivator!
Aber diesmal hatte er das geheimnisvolle Wesen, das die Progress-Wahrer ihnen als Beobachter an Bord geschickt hatten, zuerst gesehen und nicht gespürt! Noch immer nahm er seine geistige Präsenz nicht wahr.
Was hatte das zu bedeuten? War der Motivator bei dem Angriff etwa auch verletzt worden?
Hatte er einen Teil seiner Kraft verloren?
Jetzt, da Ain Cokkry darüber nachdachte, kam ihm in den Sinn, dass er nach dem Angriff diesen Druck auf sein Bewusstsein nicht mehr gespürt hatte, dieses wunderschöne, aber unnatürliche Hochgefühl, das ihn in der Gegenwart des Beobachters immer erf asste. Das Gefühl, das ihn mit unsagbarem Glück erfüllte, aber einen kleinen Teil seines Ichs auch mit tiefem Misstrauen.
Der Beobachter schien auseinander zu treiben. Sein nebelhafter Körper diffundierte in den Rauchschwaden, die die Zentrale ausfüllten, leuchtete immer schwächer.
Gebannt betrachtete Ain Cokkry, wie das sphärische Wesen sich vollständig aufzulösen drohte, und das Gefühl von Freiheit in ihm wurde immer stärker.
Doch dann zog der Nebel sich wieder zusammen. Er verdichtete sich, bis er wieder in einem kräftigen Dunkelrot erstrahlte.
Der Kommandeur versuchte sich zu wehren. Er versuchte, seinen Geist vor dem Hochgefühl abzuschotten, das sich wieder in ihm ausbreitete. Doch es durchdrang ihn, ohne dass er ihm etwas entgegensetzen konnte. Es erfüllte ihn, obwohl sein Schiff ein Wrack war und er neunzig Prozent seiner Besatzung verloren hatte.
Mit dem Enthusiasmus kam das Wissen, das Wissen um die Dinge, die wichtig waren.
Wichtig war die Kolonne, wichtig war TRAITOR. Aber nicht sein Leben und auch nicht das der anderen Charnaz Bakr. Jeglicher Gedanke an Aufgabe schwand unverzüglich aus seinem Gehirn, und Ain Cokkry ahnte, dass es in sämtlichen zerstörten Hallen und Winkeln des Raumers genauso sein musste.
Der Kommandeur wusste wieder, was er zu tun hatte, und das war gut so.
Er war wieder er selbst. Es gab keinen inneren Kampf mehr in ihm, keine Feigheit, keinen Rückzug, keinen Wunsch, diese totale Katastrophe doch noch zu überleben. Er empfand nur noch totale Identifikation mit der Terminalen Kolonne TRAITOR.
Die Fremden durften keine Informationen erlangen. Sie durften mit dem, was sie vielleicht schon herausgefunden
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