Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
genommen hast du alles, was zum entsprechenden Zeitpunkt gerade in Mode war.«
    »Ja, ja.«
    »Denk doch mal darüber nach!«
    Swan stellte ihre Teetasse auf den Tisch. »Ich glaube, ich mache mal einen Spaziergang.«
    »Gut. Verlauf dich nicht. Ich koche uns was, während du unterwegs bist, in sagen wir fünfundvierzig Minuten gibt’s Essen.«
    Swan verließ die Hütte.
    Draußen vor der Tür zog sie ihre Slipper aus, stopfte sie sich in die Tasche, grub die Zehen ins Erdreich und wackelte mit ihnen. Wie eine Tänzerin beugte sie sich aus der Hüfte vor und grub auch ihre Finger in die Erde, hob dann die Hände ans Gesicht und atmete ein. Schmutz, das ultimative Ambrosia. Schmeckte nach matschigen Pilzen.
    Es war bereits nach Sonnenuntergang. Neben einem grüngelben Sumpf verlief eine Asphaltstraße. Der Wind peitschte das Schilf. Sie ging am Straßenrand über den Erdboden und ließ den Blick an Sumpf und Himmel entlangschweifen. Auf der anderen Straßenseite kauerten ein paar alte Gebäude unter einer Baumgruppe. Weiter hinten sah man Reihen von alten Wohnblocks. Froschquaken. Sie saß am Rande des Sumpfes und sah die schwarzen Punkte weiter unten, halb über und halb unter Wasser. Ein Chor von quakenden Fröschen. Eine Weile hörte sie zu und betrachtete den Sumpf im Wind, und dann hörte sie mit einem Mal, dass die Frösche einander antworteten. Wenn ein Frosch »Ribit« machte, wiederholten die anderen das Geräusch eine Weile überall entlang der Straße, so weit sie es hören konnte, bis in einer kurzen Pause einer »Robot« machte, worauf alle diesen Laut wiederholten. Dann wurde »Limit« daraus, und wieder legte der Rest los, als spräche eine Art griechischer Chor in Gestalt von Fröschen zu ihr. So viele Limits! So viele Roboter. Der Klops, der am nächsten bei ihr saß, trug nur gelegentlich etwas bei, plusterte kurz seinen Kehlsack auf und quakte. Ansonsten verharrte er vollkommen reglos, bewegte nur die Augen, die sie im Dämmerlicht sehen konnte, ein gleitendes Blinzeln, immer wachsam. »Romper!«, quakte er in einer Pause, und Swan rief: »Schön für dich!«, und quakte das Wort eine Weile mit.
    Der Oktober auf der Nordhalbkugel der Erde, prall und glänzend. All die Schnittstellen zwischen ihrem Körper und dem Planeten brummten. Mit einem Mal kam ihr das Leben im All wie das nackte Grauen vor, ein Exil im Vakuum, wo jeder unter Reizentzug in seiner Zelle saß, für sich, virtuell, angepasst. Hier war die Wirklichkeit wirklich.
    »Röbber!«
    »Röbber röbber röbber röbber …«
    Die Magie des Augenblicks, die man ihnen geraubt hatte. Hier war sie, zog durchs All. Ein Fetzen Gegenwart. Dämmerung in einem Sumpf in einem flüchtigen Universum, so fremdartig, so geheimnisvoll. Warum existierte etwas Derartiges überhaupt? Der Wind war kühl, die Wolken hatten noch ein wenig Zwielicht bewahrt. Es sah nach Regen aus. Die Blätter der dornigen Ranken am Boden waren rot wie Ahorn. Der Sumpf war wie ein Mensch, der dort draußen lag und atmete. Krähen flogen krächzend über sie hinweg, in Richtung Stadt mit ihren Hitzeinseln. Swan kannte ein paar Worte in der Krähensprache. »Kräh, kräh, kräh«, sagten sie gerade zueinander, reines Geplapper, bis dann irgendwann eine ein Wort rief, das so klar verständlich war, dass es in die englische Sprache Einzug gehalten hatte – »Hork!«, Hawk , und dann stoben sie in alle Richtungen davon. Natürlich stammte das Worte Krähe ebenfalls aus der Krä hensprache. In Sanskrit hatte es kaaga geheißen. Importierte Worte aus frem den Sprachen.
    Bei den Häusern in der Nähe der Baumgruppe standen ein paar Leute. Irgendwie wirkten sie klein. Niedergedrückt. War das möglich, so dicht bei dieser großartigen Stadt? Gehörte es vielleicht sogar zur Stadt dazu, zu den Dingen, die sie am Laufen hielten, nicht nur die Feuchtgebiete, sondern auch die Legionen Armer und Marginalisierter, die in den halb überschwemmten Ruinen lebten? Das Gewicht des Planeten begann, sie runterzuziehen. Die Leute dort drüben waren wie Gestalten von Bruegel, Menschen aus dem 16. Jahrhundert, von der Zeit gebeugt. Vielleicht standen diese Menschen für das wirkliche Leben, und was Swan draußen im All betrieb, waren bloß die Spielereien einer Gaga-Aristokratin. Vielleicht wäre es am besten für sie, hier zu leben und Dinge zu bauen, Häuser vielleicht, klein, aber funktional, eine andere Art von Goldsworthy. Unter freiem Himmel, im unverfälschten Licht der Sonne – der totale

Weitere Kostenlose Bücher