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Luxus des Realen. Die einzige wirkliche Welt. Die Erde, Himmel und Hölle zugleich – der Himmel der Natur, die Hölle des Menschen. Wie hatten sie nur etwas Derartiges tun können, warum hatten sie sich nicht mehr angestrengt?
Aber vielleicht hatten sie das. Vielleicht war ihr Aufbruch ins All ein Teil von ihren Bemühungen gewesen, eine Art verzweifelte Hoffnung. Wie eine Samenkapsel hatte man sie von der Erde fortgeschleudert, dorthin, wo sie mit Sicherheit erfrieren und verrotten und wieder zu Humus werden würden. Ein Klumpen Erde am Straßenrand. Sie lag im Dreck, achtete darauf, die dornigen Ranken nicht zu berühren; wand sich, als wollte sie sich eingraben. Eine Raumerin, die den Dreck fickte – das sahen die Leute hier wahrscheinlich dauernd, sodass es keinen Eindruck mehr auf sie machte. Diese armen Verirrten, dachten sie sich wahrscheinlich. So etwas gab es im All nämlich nicht, nicht wirklich. Nicht mit dem Wind und mit einem weiten Himmel, an dem es schon beinahe Nacht geworden war, und mit einer Feuchtigkeit in der Luft, die sich noch nicht ganz zu Wolken verdichtet hatte – wie sie das nur hatten zurücklassen können! Der Weltraum war ein Vakuum, ein Nichts. Sie konnten ihn nur bewohnen, indem sie ihn mit kleinen Schutzräumen übersäten, kleinen Blasen; die Stadt und die Sterne, ja doch, aber das genügte eben nicht! Man brauchte eine Welt dazwischen! Das war es, was die Stadtmenschen nicht bedacht hatten. Und tatsächlich vergaß man das im Weltraum auch besser, sonst drehte man durch. Hier konnte man sich daran erinnern und nicht gleich verrückt werden – nicht direkt zumindest.
Aber es war so jämmerlich. Schmuddelig, geschmacklos, niedergedrückt. Geradezu verstörend, sodass es einem einen Stich der Verzweiflung versetzte. Dass sie es so weit hatten kommen lassen. Dass sie all das wirklich mit sich gemacht hatte. Selbst Zasha war der Meinung, dass sie zu weit gegangen war, und Z war ein sehr toleranter Mensch. Vielleicht hätte ihre Beziehung sogar gehalten, wenn Swan nicht fortgegangen wäre. Und jetzt war sie nicht länger der Mensch, mit dem Zasha zusammen ein Kind großgezogen hatte, das spürte sie, obwohl sie nicht genau wusste, was sich verändert hatte. Es sei denn, es war dieses enceladanische Zeug in ihrem Körper … jedenfalls war sie eine seltsame Person. Eine Person, die am einzigen Ort, der sie wahrhaft glücklich machte, gleichzeitig in tiefste Trauer verfiel. Wie sollte sie das miteinander vereinen, was hatte es zu bedeuten?
Sie setzte sich auf. Saß dort auf dem Erdboden, spürte die Unebenheiten unter sich.
Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung. Sie versuchte aufzuspringen, vertat sich mit dem g-Wert und rasselte sofort wieder zu Boden. Swan spähte ins Zwielicht:
Ein Gesicht. Zwei Gesichter: Mutter und Tochter. Hier war das so klar erkennbar, dass es wie Parthenogenese aussah. In genau diesem Moment erschien der Mond über der schimmernden Stadt.
Die Jüngere näherte sich Swan. Sie sagte etwas in einer Sprache, die Swan nicht kannte.
»Was gibt es?«, fragte Swan. »Sprechen Sie kein Englisch?«
Die Frau schüttelte den Kopf und sagte noch etwas. Sie blickte sich um und rief leise etwas nach hinten. Zwei weitere Gestalten erschienen neben ihr, größer als sie und breiter. Zwei junge Männer. Sie beugten sich vor und sprachen murmelnd mit der Tochter.
»Haben Sie Antibiotika?«, sagte einer der beiden. »Mein Vetter ist krank.«
»Nein«, sagte Swan, »so was habe ich nicht dabei.« Obwohl in ihrem Gürtel vielleicht etwas war, sie war sich nicht mal sicher.
Sie kamen einen Schritt näher. »Wer sind Sie?«, fragte einer. »Was sind Sie?«
»Ich besuche Freunde«, erwiderte Swan. »Ich kann sie rufen.«
Die jungen Männer kamen kopfschüttelnd näher. »Sie sind eine Raumerin«, sagte der erste Sprecher, und der andere fügte hinzu: »Was machen Sie hier?«
»Ich muss los«, sagte Swan und wollte zur Straße gehen – doch die beiden packten sie bei den Armen. Sie packten so fest zu, dass Swan nicht einmal versuchte, sich loszureißen. »He!«, sagte sie laut.
Der, der zuerst gesprochen hatte, rief etwas in die Dunkelheit hinter den beiden Frauen: »Kiran! Kiran!«
Kurz darauf trat eine weitere Gestalt aus der Nacht hervor – noch ein junger Mann, der bislang größte, doch dieser war schlank. Der Griff der beiden, die Swan festhielten, fühlte sich an, als hätten sie so etwas schon einmal gemacht.
Der neue junge Mann erschrak, als er Swan sah,
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