233 - Enklave der Träumer
berührte die Kette um seinen Hals.
Über was hatte er mit Lisette dort geredet? Er erinnerte sich an ihr hübsches Gesicht, an die blonden Haare, nicht aber an die Worte. Überhaupt verblasste die Vergangenheit mehr und mehr in seinen Gedanken. Er war am Ziel. Er hatte seine Bestimmung gefunden. Das war der Ort, an den er gehörte.
Während er zögernd den langen Steg mit der Plattform am Ende betrat, fühlte Nao die Nähe des Mysteriums. Tief im Ozean verborgen gab es eine Kraft, die ihn mit wohligen Schauern begrüßte. Sie klang in seinem Inneren. Sie zu leugnen wäre unmöglich gewesen.
Schon als sie hier gelandet waren, hatte Nao es gespürt, das wurde ihm jetzt klar. Hier auf diesem Steg hatte seine Bekehrung zu Straitar begonnen.
Die Herrin führte sie bis zur Plattform. Die Jünger umstellten sie, Herak und Nao. Ihre Fackeln warfen flackernde Lichter in die Dämmerung. Es schien, als würden die Totenschädel lachen.
Eben versank die Sonne fern von ihnen im westlichen Meer. Nao glaubte zu fühlen, dass der rote Feuerball genau über dem heiligen Mysterium stand. Er spürte eine tiefe Dankbarkeit darüber, an dieser heiligen Stätte verweilen zu dürfen.
Die Wachen zwangen Herak auf die Knie. Der Gesang der Jünger wurde lauter. Nao lauschte gebannt. Auch zu Hause wurde hin und wieder gesungen. Von Piama, der großen Mutter.
Er schüttelte den Kopf. Piama war nicht wichtig. Sie hatte längst nicht die Macht, die Straitar besaß.
Die Herrin stellte sich hinter ihn. Ihre schlanken Finger lagen auf Naos Schultern. »Versenke dich, Nao aus dem Paak. Versenke dich in den Herrn. Und wenn der geeignete Augenblick gekommen ist, dann führe den Schnitt und schenke diesem Mann die ewige Gefolgschaft!«
Nao löste sich von ihr und trat vor Herak. Mit dem Dolch in der Hand sah er dem Mann in die Augen, der ihm plötzlich so fremd erschien. Das sollte sein Vater sein? Das war nur ein Widersacher Straitars! Ein Verblendeter! Zornig betrachtete er das von Falten gezeichnete Gesicht mit den langen grauen Haaren.
Herak blickte ruhig zurück. Seine grauen Augen erinnerten Nao an andere Augen. An seine Heimat.
Das ist Herak, durchzuckte es ihn. Das ist mein Vater Herak, den ich liebe…
Stich zu. Es ist nur ein Feind, bedrängte ihn eine andere Stimme. Nao war, als gehöre sie der Herrin. Sandte sie ihm ihre Gedanken? War er überhaupt noch er selbst? Verunsichert suchte er weiter in Heraks Gesicht, als könne er darin Antworten finden.
Ich will ein letztes Mal in ihn dringen. Ihn erlauschen.
Nao hatte das als Kind oft versucht, aber seine Gabe war zu schwach gewesen. Hier auf dem Steg fühlte er sich dagegen unbesiegbar. In der Gegenwart der Herrin war seine Gabe stärker denn je. Er schloss die Augen und berührte wieder die Kette, die Lisette ihm geschenkt hatte. Sein Geist drang in Heraks Gedanken vor.
Er sah den Paak, die Bauten, die von Termiiten angelegt waren, ehe die Menschen sie sich erobert hatten. Da stand seine Mutter. Sie hielt ihn im Arm. Er war noch ein Säugling. Eine Lischette flog über den Platz und Nao versuchte mit seiner kleinen Hand nach ihr zu greifen.
In Heraks Gedanken wurde er größer. Er machte auf dem sandigen Platz seine ersten Schritte, angelte am Meer, ging mit auf die Jagd im Paak. Nao fühlte die große Liebe Heraks und sah auch seine zahlreichen anderen Geschwister. Zuletzt Airin, die er zutiefst verabscheut hatte.
Sie hat mir so viel Angst gemacht…
Warum nur war er noch einmal hierher gekommen? Wieder sah er Lisettes Gesicht vor sich. Dieses Mal erinnerte er sich an ihre Worte. Nicht an den genauen Wortlaut, aber an ihren Sinn: »Ich will, dass du auf dich aufpasst, Nao. Man kann nicht alles allein schaffen…«
Und dann wieder Airin. Die große Schwester Airin, die ihn vor etwas warnen wollte, aber er bekam es nicht zusammen. Er drang tiefer in Heraks Gedanken und fand, was er gesucht hatte: Nao ist nicht er selbst! Nao steht unter dem Einfluss des Dämons…
Auch Airin und Lisette hatten befürchtet, dass er unter den Einfluss der Träume geraten könnte…
Mit einem Mal war alles wieder da. Die Träume. Seine Freunde. Warum er eigentlich hier war! Er wollte Herak doch retten, nicht töten!
Es war die Herrin, die ihn geblendet hatte! Ihr verderblicher Einfluss war nicht menschlich. Nao war sich plötzlich sicher, dass hinter dem weißen Schleier eine dämonische Fratze lauerte. Nein, diese süße Stimme war nur ein Trugbild! In diesem Kleid steckte ein Dämon, und
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