233 - Enklave der Träumer
mit ihm? War das der Dämon? Griff er nun nach seinem Hirn? Er robbte zwischen Nik und Joon und blieb schwer atmend liegen.
»Wir brauchen den Schlüssel.« Er wies auf den feisten Wächter. »Er hat ihn. Wir müssen auf den richtigen Moment warten.«
Die anderen beiden bestürmten ihn mit Fragen, die er flüsternd beantwortete. Immer wieder sah er zu der Frau hinüber. Warum musste er ständig an sie denken?
»Pirschen wir uns näher an das Zelt heran«, schlug Nik vor. Sie robbten durch die Büsche, bis sie eine gute Position hatten, und warteten. Nao fühlte sich sonderbar erhitzt. Am liebsten hätte er geschlafen, sich einfach ausgeruht. Aber das ging nicht. Sie brauchten den Schlüssel. Sie mussten Herak retten.
Er versuchte den Wächter im Auge zu behalten, doch seine Gedanken und Blicke wanderten immer wieder zu der Frau hinüber. Du bist auserwählt. Straitar liebt dich. Nao zitterte. Was hatte das alles zu bedeuten?
»Seht!«, drang Joons Stimme in seine Gedanken.
Eben bückte der feiste Wächter sich und ging wieder in eines der Zelte. Es war aber nicht das Versorgungszelt mit dem Brandtwein, sondern das Nachbarzelt, das nur wenige Meter von ihnen entfernt lag.
»Jetzt oder nie!« Nik sprang auf und hetzte geduckt auf das Zelt zu. Nao fluchte und folgte ihm, während Joon stocksteif liegen blieb.
Nik kroch unter der hinteren Wand des Zeltes hindurch. Wie eine Schlange wand er sich ins Innere. Nao beeilte sich, hinterherzukommen.
Wie er befürchtet hatte, war das Zelt nicht leer. Zwei Verrückte saßen dort und wiegten ihre Körper in Trance vor und zurück. Sie stierten stumpf vor sich hin. Ihre Umgebung interessierte sie nicht.
Auf einem schlecht gezimmerten niedrigen Tisch standen Unmengen von Obst und gebratenem Fleisch. Nao lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen.
Der Wächter nahm sich gerade ein Stück Fleisch, als Nik ihn von hinten ansprang und ihm den Mund zuhielt. Nao nahm seinen Dolch und schlug mit dem Knauf des Griffes auf die Schläfe des Wächters ein. Er brauchte fünf Versuche, ehe der Mann zu Boden ging – doch auch danach konnte er nicht aufhören zu schlagen.
»Straitar«, murmelte er benommen. »Für Straitar…« Vor ihm tanzte die Frau in Weiß.
Nik riss den Schlüsselbund von der Gürtelschnur des Mannes. Seine Finger zitterten.
»Nao! Was soll das? Wir haben keine Zeit!« Er packte den größeren Jungen am Handgelenk. Nao sah ihn verwirrt an und folgte ihm dann aus dem Zelt hinaus. Geduckt rannten sie im Schatten der Büsche zum Käfig zurück. Nao nahm Nik den Schlüssel aus der Hand. Er betrachtete das Schloss, plötzlich unentschlossen.
Ich kann Straitar kein Opfer nehmen. Der Gedanke war so unsinnig, dass Nao kurz stutzte. Er lauschte auf die Trommeln. Ein rauchiger, süßlicher Geruch vernebelte ihm die Sinne. Er kam von den Feuern herübergeweht. Sein Blick blieb wieder an der Frau hängen. Wie sie wohl unter dem Kleid aussah? Was lag hinter dem Schleier? War sie wirklich so schön, wie er sie sich vorstellte? Die Bäume im Hintergrund verschwammen…
»Nao!«, zischte Nik und stieß ihm den Ellbogen hart in die Rippen.
Im Käfig nebenan wurde Kiras unruhig. »Macht hin«, meinte er halblaut. »Holt uns raus!«
Nao regte sich nicht. Das Grün der Eukalyptusbäume verschwand. Stattdessen sah er zerstörte Erde. Das Sonderbare war, dass es ihn nicht beunruhigte. Im Gegenteil, es war eine Gnade. Ich sollte dankbar sein für diese Vision.
Er hörte, wie die Frau in Weiß in seinen Gedanken lachte.
»Nao!« Herak griff durch das Gitter und packte ihn an der Schulter. »Worauf wartest du, Junge?«
In dem Moment wurden Stimmen laut. Die Musik der Trommeln verstummte.
Nao trat zurück und entzog sich Heraks Griff. Er ging an dem verblüfften Nik vorbei und trat im Licht der Nachmittagssonne mitten auf die Lichtung.
Sie kam auf ihn zu. Die Braut Straitars. Sie war kein Opfer, sondern seine Dienerin. So wie er der ihre war. Nao lächelte und sah den Wachen ruhig entgegen, die offenbar ihren bewusstlosen Kameraden gefunden hatten.
»Na warte, Bursche!«, rief einer. Hinter ihm trat der feiste Wächter aus dem Zelt. Blut lief aus einer Platzwunde an seiner Stirn und über ein Spinnennetzmuster, das er aufgemalt an der Wange trug. »Lasst ihn mir«, knurrte er hasserfüllt.
Nao bedauerte, ihn nicht getötet zu haben, aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Er ging auf die Frau in Weiß zu. Das alles war nur ein Test. Er war auserwählt. Er hatte seine
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