235 - Auf dem sechsten Kontinent
Trampelpfad entlang, der sich im Zickzack den Hügel hinauf zog. »Als unsere Vorfahren hierher flüchteten, hatten sie das passende Bohrgerät bei sich und ausreichend Dieseltreibstoff. Wir alle stammen von Forschern, Ingenieuren und Technikern ab, und wir haben zu improvisieren gelernt.«
Auf halber Höhe des Wanderweges lag ein moosbewachsener Baumstrunk, der zum Verweilen einlud. Der Blick reichte von hier über die Felder hinab zur Hütte der Rozhkois. Offenbar war dieser Platz der Inbegriff romantischer Sehnsucht auf der winzigen Insel.
»Mein Urgroßvater war bei jenen Männern, die nach der Landung auf den Inseln nach Wasser gruben. Sie bohrten durch meterdicken Granit, bevor sie auf eine Löss- und Lehmschicht stießen. Darunter trafen sie schließlich auf Grundwasserblasen, so groß, dass unsere Versorgung über Jahrhunderte hinweg gesichert ist. Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Granit- und Basaltschicht den Ozean wie eine Hülle einpackt. Der Lehm darunter jedoch ließ sich mit den Händen wegschaufeln.«
Juri warf Matt einen ernsten, einen traurigen Blick zu. »Unsere Vorfahren mussten auf die Inseln flüchten, weil ihnen in den Stationen das Eis unter den Hintern wegschmolz. Sie machten sich auf den Weg, zuerst zu Fuß über gewaltige Gletscher, dann auf Booten durch Meeresgebiete, deren Ökosysteme sich aufgrund des Schmelzwasserzuflusses in einem gewaltigen Umbruch befanden.« Er seufzte. »Der Auszug unserer Väter aus der früheren Heimat war von tragischen Unglücksfällen gekennzeichnet. Sie waren keine Seeleute, und sie erlitten große Verluste, bevor sie das Schelfland erreichten. Dementsprechend entwickelten sie eine gehörige Abneigung gegen die Seefahrt.«
Die Kuppel des Hügels war fast erreicht. Sie bewegten sich im Schatten der Felsnadel auf den höchsten Punkt der Insel zu.
»Als die ersten Siedler die Inseln erreichten und sich in Sicherheit wussten«, fuhr Juri fort, »gruben sie einen ersten Tunnel zwischen den Inseln Barter und Hergé. Sie stützten die Wände mit Spritzbeton ab; die Grundmaterialien dafür wie Kalk, Ton, Sand oder Eisenerz und auch das Fachwissen waren reichlich vorhanden. Diese Zeiten sind vorbei. Die Anforderungen an das heutige Leben sind ganz andere, wie du dir vorstellen kannst, Matt.«
Der Gipfel war erreicht. Juri betätschelte fast zärtlich die Basis der Felsnadel. »Wir sind Farmer und Händler geworden. Wir beliefern das Innenland mit dringend benötigten Lebensmitteln. Jeder von uns muss alles können, um die Familieninseln betreuen und bewirtschaften zu können. Spezialisierung und Fachwissen haben in unserem Leben keinen Platz mehr.«
Stolz schwang in Juris Stimme mit. Allmählich kristallisierte sich das Bild schwer arbeitender Menschen heraus, die gegen die Unbilden der Natur Wissen und Erfahrung aus einer dunklen Zeit in die Gegenwart herübergerettet hatten, um irgendwann die Wege ihrer Vorväter zu verlassen. Gezwungenermaßen; denn nur durch diese Anpassung hatten sie überlebt.
Noch aber gab es Unklarheiten. Wie waren die Siedler hierher gelangt? Wie hatte sich dieses seltsame Inselsystem entwickelt? Gab es denn nur die Familien und keine übergeordnete Instanz? Etwa einen Ältestenrat oder dergleichen?
Matt umrundete in Juris Schlepptau die Felsnadel. Der Siedler ließ eine Hand über den Horizont schwenken, als gehörte alles ihm, was da zu sehen war.
Die Rifflandschaft mitsamt des Dentrillen-Waldes erstreckte sich wie eine gerade Linie vor ihnen. Diesseits dieser Grenze lagen Hunderte Inseln, wie Körner hingestreut im seichten, smaragdenen Wasser. Manche von ihnen waren bunt wie Fleckenteppiche, andere goldgelb von Weizenähren oder Rapspflanzen. Manche stachen grün, gelb oder violett hervor, einige wenige waren unbesiedelt oder nicht kultiviert. Zwei von ihnen wirkten vernachlässigt. So, als wären die Besitzer gestorben und keiner kümmerte sich mehr um das Land.
»Das Außenland besteht aus knapp sechshundert Inseln«, sagte Juri stolz. »Drei davon gehören meiner Familie; Hier pflanzen wir Getreide, Früchte und Gewürze an. Die Samen stammen von eingefrorenen Proben, die während der langen Dunkelheit in der Domland-Station genetisch präpariert wurden. Sie blühen und gedeihen trotz der niedrigen Temperaturen und sind gegen die Wetterunbilden weitgehend resistent.« Er deutete hinter sich. »Die dritte Insel in dieser Kette nennt sich Renova, und sie ist ebenfalls mein Eigentum. Sie ist eine Waldinsel. Kiefer und
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