2378 - Der Erste Kybernetiker
Parapositronik auch nicht als hundertprozentigen Feind an. Zu sehr war er fasziniert - musste ESCHER nicht der Lebenstraum jedes Kybernetikers sein?
Von denselben Gedanken getrieben, die er seit Tagen wieder und wieder hegte, schlief er, noch immer gegen das kühle Metall gelehnt, ein.
Als er erwachte, galt sein erster Blick dem Chronometer. Der frühe Abend war angebrochen. Savoire hatte mindestens sechs Stunden lang geschlafen und seit dem Morgengrauen nichts gegessen. Er erhob sich.
Zumindest wollte er es. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Rücken.
Er stöhnte auf und presste die Hand gegen die Stelle, in der ein Messer zu stecken schien - einen entsetzlichen Moment lang glaubte er das Opfer eines heimtückischen Anschlags geworden zu sein. Allerdings tasteten seine Hände nichts; der Schmerz war nur die Folge der äußerst unbequemen Lage, in der er stundenlang geschlafen hatte. Auch sein Nacken schien unter den Verspannungen in Flammen zu stehen.
Mühsam kam er auf die Beine und schüttelte die Benommenheit des Schlafs ab. Es war höchste Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Die Parapositronik musste Erfolge sehen, sonst änderte sie womöglich ihre Einschätzung seiner Nützlichkeit. Falls er diesen Gesinnungswandel überlebte, wäre er danach zumindest nicht mehr an Ort und Stelle, um ESCHERS weiteren Werdegang zu beobachten.
Diese Möglichkeit wollte er sich auf keinen Fall nehmen lassen. In welche Richtung sich die Parapositronik auch entwickeln mochte, Laurence Savoire` wollte dabei sein. Er wollte, er musste das Schicksal seines Kindes mitverfolgen...
Also ging er daran, die Wartungsarbeiten der positronischen Bestandteile fortzusetzen, die - meist als periphere Elemente des eigentlichen Kerns - mehrere Stockwerke einnahmen. Seine Aufgabe hätten auch andere erfüllen können, schließlich gab es mehrere hoch qualifizierte Techniker und Ingenieure unter den Angestellten. Aber Savoire wollte wenigstens den Anschein erwecken, dass er genau wusste, was er tat.
In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Vorstellung davon, wie er die Verbindung zur Hyperdim-Matrix verbessern sollte. Er verstand dieses Medium nicht einmal.
ESCHER hatte ihn damit konfrontiert, ohne eine genaue Definition zu liefern.
Savoire konnte die Parameter dieser unwirklichen Matrix nicht bestimmen, die zu einem Großteil aus den Bewusstseinen der verstorbenen Prozessoren bestand.
Der Erste Kybernetiker hatte verschiedene Gleichungen und Modelle entworfen, die helfen sollten, dieses Phänomen zu erfassen, aber bislang gelang ihm keine Analyse, die das Medium wirklich verständlich machte. Wie sollte er mit einem Phänomen arbeiten, das mich jeder Definition entzog, weil es an grundlegenden Daten mangelte?
Das charakteristische Zischen einer sich öffnenden Tür riss ihn aus den Überlegungen. Leichtfüßige Schritte näherten sich ihm in völlig gleichförmigem Rhythmus. Er blickte in Richtung der Korridorbiegung, hinter der der Besucher gleich hervortreten musste. Eine hochgewachsene, wie immer völlig schwarz gekleidete Gestalt tauchte auf. „Was willst du?"
Pal Astuin hielt eine Begrüßung offenbar ebenso wenig für notwendig, seine pechschwarzen Augen sahen gelangweilt drein. „Du musst schlafen. Wenn du vor Erschöpfung zusammenbrichst, wirst du keine effektive Arbeit leisten."
„So? Überwacht ihr jeden meiner Schritte?
Und haltet ihr es für nötig, mir zu befehlen, was ich zu tun und zu lassen habe? Ich bin in der Lage, meine Entscheidungen selbst zu treffen. Aber sag ESCHER, er soll den Psychoblock verstärken und mich dazu zwingen, ins Bett zu gehen, wenn er es für richtig hält!" Die Worte erleichterten ihn und schufen ein, Ventil für die Wut, die von Sekunde zu Sekunde stärker in ihm kochte. „Emotionen sind völlig unangebracht", erwiderte der Avatar kühl. „Und es ist nicht nötig, mich anzufeinden. Meine Bemerkung ist die logische Schlussfolgerung aus meinen Beobachtungen. Du bist übermüdet und unkonzentriert. Wenn du zu objektiver Selbstbeobachtung fähig wärst, würdest du zu demselben Ergebnis gelangen."
Savoire stieß, einen derben Fluch aus. „Du bist also der Meinung, ich sei nicht in der Lage, klar zu denken? Warum hat ESCHER mich dann als seinen Ersten Kybernetiker ausgewählt? Kannst du mir das sagen?" Er trat einen Schritt näher an Astuin.
Der Avatar verzog keine Miene. „Leg die Emotionen beiseite und denke als Wissenschaftler."
Savoire ballte die rechte Hand und hob sie.
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