239 - An der Pforte des Hades
weitere Decke über ihren Sohn ausbreitete, drückte der Kleine seine Wange in Sables geflecktes Fell. »Mach dir keine Sorgen, Sable. Papa schaut nur nach, ob die Eisschollen gewachsen sind. Er wird bestimmt bald zurück sein.« Zärtlich strichen seine Finger über die gespitzten Ohren des Wildkatzenbabys. Sable schnurrte. Seine kleinen, säbelförmigen Fangzähne verfingen sich in Chichis Locken.
Wakaido hatte das Tier vor wenigen Wochen mitgebracht. Ein fahrender Händler, der im Binnenhafen von Nischni-Nowgorod allerlei Kuriositäten feilbot, hatte es als eines der letzten Exemplare seiner Art angepriesen. Es war ein Zwerg-Sebezaan, der aus dem fernen Ruland stammen sollte.
Rose war wenig begeistert von dem Familienzuwachs gewesen. Sie hatte Angst, dass die Raubkatze Chichi verletzen könnte. Doch Wakaido zerstreute ihre Sorgen. »Das Tier wird nicht größer als ein Hund«, beteuerte er stets. »Wir sind sein Rudel und es wird lernen, sich unterzuordnen. Vertrau mir!«
Rose seufzte. Ja, sie vertraute ihm. Zumindest was Sable betraf. An Wakaidos Einschätzung, was die künftigen Befreiungsaktionen der Pachachaos anging, hegte sie allerdings Zweifel seit der Nacht vor vier Tagen. Jener Nacht, die ihr Innerstes in ein Trümmerfeld verwandelt hatte: Sie hatte getötet. Einem Fremden einen Harpunenpfeil in den Rücken geschossen. Sie, die nach Nischni-Nowgorod gekommen war, um für die Menschen Heilmittel zu entwickeln.
Rose versuchte sich mit den Erinnerungen an jene Zeit zu trösten. Damals, nachdem die Rote Seuche zwei Drittel der männlichen Bewohner Nischni-Nowgorods unfruchtbar gemacht hatte. Damals, als in ihrer Heimat, dem Antarctic Empire (das britische Territorium), erfolgreich ein Impfstoff entwickelt wurde. Damals, als sie ihre Ausbildung als Pharmakologin mit Auszeichnung abgeschlossen und sie sich freiwillig für das Nischni-Nowgorod-Projekt gemeldet hatte.
Mit einem Expertenteam reiste sie regelmäßig in das russische Territorium, um die langfristigen Auswirkungen der Seuche zu untersuchen und Mittel gegen die Unfruchtbarkeit zu finden. Schon in den ersten Tagen hier traf sie auf Wakaido, den Spezialisten für Pflanzen und Mineralien in diesem unwirtlichen Landstreifen. Das Gebiet der einst am Südpol gestrandeten Russen lag zwischen Meer und Eiswüste. Stürme und Nebel beherrschten diese Gegend. Und als ob die Bewohner von Nischni-Nowgorod sich dem Klima ihres Territoriums angepasst hätten, waren sie humorlos und grob.
Zumindest empfand Rose sie so. Doch Wakaido war anders. Er hatte immer ein freundliches Wort auf den Lippen, konnte über sich selber lachen und gewann selbst dem schlimmsten Blizzard noch etwas Positives ab. »Schau genau hin, Rose. Nach diesem Sturm wird die Welt anders aussehen. Er schafft Ausgleich. Er nimmt von dem üppigen Land und gibt es dem kargen.«
Rose sah nur weiße Eissplitter durch Schneegestöber jagen und hörte das Fauchen des Sturmes. Trotzdem hing sie an Wakaidos Lippen und spürte seinen starken Arm um ihre Schulter.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Und als sie mit Chichi schwanger war, fiel die Entscheidung nicht schwer, ganz nach Nischni-Nowgorod zu ziehen. Erst nach der Geburt ihres Sohnes fiel ihr die Zurückhaltung auf, mit der die Leute ihrem Mann begegneten. Eine Mischung aus Respekt und Argwohn. Es sollte noch lange dauern, bis sie begriff, dass es an seiner Herkunft lag: Wakaido war ein Pachachao.
Diese Tatsache hatte sie von Anfang an übersehen. Nicht im Traum wäre sie darauf gekommen, dass dieser gepflegte, intelligente Mann von den Eisbarbaren abstammen könnte. Sie war davon ausgegangen, er wäre Vollwaise. Sie reagierte geschockt und war enttäuscht darüber, dass Wakaido sie nicht aufgeklärt hatte.
»Was soll das, Rose?«, entgegnete er. »Genauso könnte ich enttäuscht sein, dass ich mich mit einer Frau verbunden habe, die den Wert eines Menschen an dessen Zivilisationsgrad misst. Ich schäme mich für dich«, entgegnete er.
Das war der Beginn einer langwierigen Auseinandersetzung mit Wakaido, aber auch mit sich selbst und ihrem bisherigen Weltbild. Wie alle anderen hatte auch Rose in den Pachachaos Menschen zweiter Klasse gesehen. Entsprechend geringschätzig hatte sie sie während ihrer Ausbildung im britischen Territorium behandelt. Es lebten dort nur wenige von ihnen. Sie arbeiteten als billige Hilfskräfte oder waren Probanden. Für Rose war es selbstverständlich gewesen, dass diese armen Kreaturen nicht freiwillig in der
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