24 Stunden
Derjenige, der dieses Verbrechen geplant hatte, schien ziemlich clever zu sein. Er hatte seine Entführung so konstruiert, dass eine aggressive Reaktion vollkommen ausgeschlossen war. Cheryls Waffe war nur dazu da, Wills anfängliche Panik zu kontrollieren. Die wahre Bedrohung ging von Abby aus. Er könnte den Hörer abheben und die Polizei rufen. Doch wenn die Polizei Cheryl verhaftete und sie ihren Partner nicht jede halbe Stunde anrief, würde Abby sterben.
»Wer garantiert mir, dass ich Abby zurückbekomme, wenn ich mache, was Sie sagen?«
»Es gibt keine Garantie. Sie müssen uns vertrauen.«
»Das reicht mir nicht. Woher sollen wir wissen, dass wir sie zurückbekommen? Wie funktioniert der Plan genau? Sagen Sie es mir jetzt sofort, ohne nachzudenken.«
Cheryl nickte. »Abby und Ihre Frau werden an einem öffentlichen Platz, an dem sie sich nicht verfehlen können, freigelassen.«
Es hörte sich an, als ob sie daran glaubte. Und sie hatte ihm gesagt, dass sie diese Art von Verbrechen schon fünfmal verübt hatten. Will dachte an die Schlagzeilen der letzten Jahre in Mississippi. Er konnte sich nicht daran erinnern, etwas über entführte und ermordete Kinder gelesen zu haben. Auf jeden Fall nichts über Lösegelderpressungen in Verbindung mit Entführungen. Das hätte im ganzen Staat für Schlagzeilen gesorgt.
»Und was hält mich davon ab, zur Polizei zu gehen, nachdem Sie Abby freigelassen haben?«
»Die Tatsache, dass zweihunderttausend Dollar für Sie eine Kleinigkeit sind. Außerdem würden wir es erfahren, wenn wir von der Polizei gesucht werden. Und dann kommt mein Partner zurück und tötet Abby. In Ihrem Gartenhäuschen, in der Schule, nach der Kirche - irgendwo. Sie können mir glauben, dass er das tun würde. Wir haben das hier schon mit fünf anderen Ärzten durchgezogen, und keiner hat Anzeige erstattet. Kein Einziger. Sie werden es auch nicht machen.«
Will wandte sich mutlos von ihr ab und schaute durchs Fenster. Die Lichter eines nach Westen fahrenden Frachtschiffes leuchteten in der Dunkelheit, die langsam über dem Golf hereinbrach. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie eine so grenzenlose Ohnmacht verspürt. Ein ganz einfaches Motto hatte ihn schon durch viele Situationen geführt, in denen es um Leben und Tod ging: Es gibt immer einen Ausweg. Eine andere Möglichkeit. Vielleicht ist es ein harter Weg, aber es gibt ihn.
Diesmal schien es jedoch keinen Ausweg zu geben. Seine Wut, in dieser Falle zu sitzen, machte ihn schier verrückt. Er drehte sich wieder zu Cheryl um.
»Und ich soll jetzt die ganze Nacht hier sitzen, während ein Fremder meine kleine Tochter gefangen hält und sie zu Tode erschreckt? Bevor ich das zulasse, werde ich Ihnen den Kopf abreißen, gute Frau.«
Cheryl hob die Waffe. »Bleiben Sie stehen!«
»Was sind Sie nur für eine Frau! Haben Sie überhaupt gar keine Muttergefühle?«
»Unterstehen Sie sich, über meine Gefühle urteilen zu wollen!« Cheryl stieg die Röte ins Gesicht. »Sie haben doch überhaupt gar keine Ahnung!«
»Ich weiß, dass Sie einem Kind eine Höllenangst einjagen!«
»Daran kann ich nichts ändern.«
Er wollte ihr gerade eine passende Antwort geben, als ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss. »O mein Gott! Was ist denn mit Abbys Insulin?«
Cheryl wurde kreidebleich. »Was?«
»Abby leidet an Jugenddiabetes. Wissen Sie das nicht? Haben Sie das nicht eingeplant?«
»Beruhigen Sie sich!«
»Sie müssen Ihren Partner anrufen. Ich muss sofort mit ihm sprechen. Jetzt sofort!«
Das Telefon neben dem Bett klingelte laut.
Cheryl und Will starrten beide auf den Apparat. Dann ging Cheryl zum Telefon und legte ihre freie Hand auf den Hörer.
»Sie möchten mit ihm sprechen?«, fragte sie. »Das ist Ihre Chance. Aber immer schön cool bleiben, Doktor.«
5
Will nahm das Telefon von Cheryl entgegen und hielt es an sein Ohr.
»Hier ist Will Jennings.«
»Doktor Will Jennings?«, fragte eine Männerstimme.
»Richtig!«
»Sie haben unerwartet Besuch bekommen, Doktor?«
Will warf Cheryl, die ihn nicht aus den Augen ließ, einen Blick zu. »Ja.«
»Sie sieht heiß aus in ihrem schwarzen Kleid, nicht?«
»Hören Sie zu. Ich muss Ihnen etwas erklären.«
»Sie erklären mir gar nichts, Doktor. Heute Nacht habe ich das Kommando. Kapiert?«
»Ja, das hab ich kapiert, aber... «
»Nichts aber. Ich stelle Ihnen jetzt eine Frage, Doktor. Das ist ein Quiz. Sie kennen doch diese bekloppten Quizsendungen aus dem Fernsehen,
Weitere Kostenlose Bücher