24 Stunden
sie. »Ich weiß noch nicht einmal, wo Ihre Tochter ist. Und selbst wenn ich es wüsste und Sie die Information aus mir herausprügeln würden, wäre die Polizei nicht in dreißig Minuten da. Das weiß ich ganz genau.« Cheryl, die noch immer die Waffe in der rechten Hand hielt, rieb sich über beide Arme, als würde sie frieren. »Sie sollten Joey nicht bedrohen. Er kann Ihrer kleinen Tochter eine Menge antun, ohne sie zu töten. Sie haben im Moment schlechte Karten.«
Will schloss die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an, die dieser Terror in ihm auslöste. »Wer zum Teufel ist dieser Joey?«
Cheryl schaute ihn an wie einen Idioten.
»Er ist mein Mann.«
Abby lag auf einem alten Sofa in der Hütte und schlief. Huey hatte sie mit einer Wolldecke zugedeckt. Er saß neben ihr auf dem Boden und schnitzte. Noch war nicht zu erkennen, was aus dem Stück Zedernholz werden sollte. Huey war nervös. Er wusste, dass das kleine Mädchen sich zu Tode erschrecken würde, wenn es aufwachte, und das machte ihm Angst. Ihm wäre lieber gewesen, sie hätten einen Jungen entführt. Mit Jungen war es einfacher. Bei den fünf Lösegelderpressungen hatten sie dreimal Jungen entführt. Wenn er auf Mädchen aufpasste, musste er zu viel nachdenken, und wenn er nachdachte, wurde er traurig.
Er erinnerte sich kaum noch an seine Schwester, aber er erinnerte sich an einige Dinge an ihr. Vor allem an ihren Husten. An ihre schrecklichen Hustenanfälle und ihr Keuchen und Pfeifen bei jedem Atemzug. Wenn er an dieses pfeifende Atmen dachte, krümmte er sich vor Entsetzen. Huey hatte das kleine Bett von Jo Ellen an den Holzofen geschoben, damit sie es warm hatte, doch es hatte nicht geholfen. Seine Mutter und der Arzt sagten immer wieder, es handelte sich nur um eine starke Erkältung, und plötzlich war es zu spät. Als sie mit ihr im Pickup eines Nachbarn zum Arzt in die Stadt fuhren, war sie schon mausetot. Sie sah mit ihrer bläulich weißen Haut aus wie ein kleiner Porzellanengel. Eine Auserwählte Gottes und erst vier Jahre alt. Es soll Diphtherie gewesen sein. Huey hasste das Wort. Jahre später sprach es jemand im Fernsehen aus, und Huey hob den Apparat hoch und zertrümmerte ihn. Joey hatte Jo Ellen nicht kennen gelernt. Er lebte damals in Mississippi.
Abby stöhnte wieder - diesmal etwas lauter -, und Huey holte die Barbiepuppe, die Joey ihm durchs Fenster gereicht hatte.
»Mama?«, jammerte Abby, die noch immer die Augen geschlossen hatte. »Mama?«
»Deine Mama ist jetzt nicht hier, Abby. Ich bin Huey.«
Sie riss die Augen auf und schaute diesen Riesen, der vor ihr hockte, mit großen Augen an. Sofort traten Tränen in ihre Augen, und ihre Unterlippe fing an zu zittern.
»Wo ist meine Mama?«, fragte sie mit leiser Stimme.
»Sie musste mit deinem Daddy weg. Sie haben mich gebeten, solange auf dich aufzupassen.«
Abby schaute sich in der verfallenen Hütte um. Ihre Wangen wurden rot. »Wo sind wir? Was ist das für ein Haus?«
»Eine Hütte im Wald. Sie ist nicht weit von eurem Haus entfernt. Deine Mutter kommt bald zurück.«
Jetzt zitterte Abbys Unterlippe stärker. »Wo ist sie?«
»Bei deinem Daddy. Sie kommen beide bald wieder.«
Abby schloss die Augen und wimmerte. Sie hatte entsetzliche Angst. Huey nahm die Barbiepuppe, die hinter ihm lag, und setzte sie vor Abby auf die Couch. Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Puppe - die einzige Verbindung zu ihrem Zuhause.
»Die hat deine Mama für dich dagelassen«, sagte Huey.
Abby nahm die Puppe in die Hand und drückte sie an ihre Brust. »Ich hab Angst.«
Huey nickte mitfühlend. »Ich auch.«
Abby riss den Mund auf. »Du auch?«
Er nickte, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Abby schluckte, streckte ihren Arm aus und drückte seinen kleinen Finger, als wollte sie ihn trösten.
Joe Hickey und Karen Jennings fuhren auf der am Stadtrand von Jackson entlangführenden Interstate 55 Richtung Süden. Die Hütte war etwa 40 Meilen entfernt. Die kleine Kühltasche lag auf Karens Schoß. Hickey griff in die Tasche und zog ein langes Seidentuch heraus, das er aus der Waschküche der Jennings mitgenommen hatte.
»Binde das über deine Augen.«
Karen band sich das Tuch um den Kopf, ohne zu widersprechen. »Sind wir gleich da?«
»Noch eine knappe Stunde. Keine Fragen mehr. Ich könnte meine Meinung noch ändern, und dann wird das nichts mit dem Insulin.«
»Ich möchte sowieso nicht sprechen.«
»Nein, rede weiter«, sagte
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