24 Stunden
Joey nicht vorstellen kann. Und wenn er glaubt, Ihr kleines Mädchen könnte schuld dran sein, dass ich in den Knast gehe, wird sie so sicher sterben wie mein Alter.« Hickey zwinkerte Karen zu, als er weitersprach. »Er kann Abby das Genick brechen, ohne dass er es will. Es ist so, als ob er eine chinesische Vase fallen ließe.«
Hickey hörte nun kurz Will zu und legte das Telefon dann mit einem zuversichtlichen Grinsen im Gesicht auf die Mitte des Bettes. Karen nahm es in die Hand.
»Was sollen wir tun?«, fragte sie.
»Inzwischen habe ich bei CellStar angerufen, um mich zu erkundigen, ob Ferris überhaupt in der Stadt ist. Ich habe denen was von einem medizinischen Notfall erzählt. Der Sicherheitsdienst hat gesagt, er müsste zu Hause sein.«
»Und es schaltet sich immer nur der Anrufbeantworter ein?«
»Ja, aber ich werde es weiter versuchen. Irgendjemand muss doch mal wach werden. Ich will jetzt mit Abby sprechen. Ich muss ihre Stimme hören. Kannst du die Telefone zusammenhalten?«
Karen richtete die Waffe auf Hickeys Gesicht. »Setzen Sie sich neben die Wand auf den Boden.«
»Warum?«
»Setzen Sie sich hin, verdammt!«
Hickey umklammerte seinen aufgeschlitzten Oberschenkel mit beiden Händen, lehnte sich gegen die Wand und glitt zu Boden. Karen legte die 38er auf die Decke, drehte dann eines der Telefone um und drückte sie aneinander.
»Meine kleine Wilde?«, sagte Will, dessen Stimme wie aus einem Transistorradio klang. »Hier ist dein Dad. Ist alles in Ordnung?«
Karen hörte Abby schluchzen. Am liebsten hätte sie die Waffe ergriffen und Hickey eine Kugel ins Herz gejagt.
»Ich komme und hole dich, Kleines«, sagte Will in stockendem Ton. »Jetzt musst du dich erst einmal verstecken. Es ist wie im Zeltlager. Nur ein anderes Spiel. Es dauert vielleicht eine Weile, aber dein Daddy kommt auf jeden Fall. Verstehst du?«
»Ja«, sagte Abby mit zarter Stimme. Sie musste sich furchtbar einsam fühlen.
»Ich stelle dir jetzt mal eine Frage. Ist es schon einmal vorgekommen, dass du mich wirklich gebraucht hast und ich nicht gekommen bin?«
»Nein.«
»Siehst du. Und das wird auch nie passieren. Das schwöre ich auf die Bibel.«
»Man soll nicht auf die Bibel schwören.«
»Wenn es um etwas ganz Wichtiges geht, darf man das. Ich hole dich da raus, Kleines. Wenn du Angst bekommst, denkst du einfach daran. Dein Daddy kommt.«
»Okay.«
»Ich muss jetzt noch einmal mit Mama sprechen. Ich liebe dich, Kleines.«
»Beeil dich, Daddy.«
Karen hielt das Telefon an ihr Ohr. »Will?«
»Es wäre gut, wenn Abby das Handy einen Moment ausschalten könnte, um die Batterie zu schonen. Aber ich weiß nicht, ob sie damit klarkommt. Rede ihr gut zu, damit sie die Ruhe bewahrt. Ich tu alles, was ich kann.«
»Beeil dich, Will.«
Huey Cotton blieb auf dem zerfurchten Pfad stehen, der zur Hütte führte, und hob den Blick gen Himmel. Er war sehr traurig, und seine Augen schmerzten von der Suche in der Dunkelheit. Huey erlebte die Welt auch nachts größtenteils farbig. Einmal hatte ihn ein Arzt danach gefragt. Der Wald hatte zum Beispiel einen grünlichen Geruch. Sogar in der Nacht, wenn das Grün in der Dunkelheit verschwand, konnte er das Grün riechen und fühlen. Das frische Grün der Eichenblätter über ihm. Das satte Grün der Weinranken, die sich um seine Hosenbeine schlangen.
Joey hatte zwei Farben. Manchmal war er weiß wie ein Engel, ein Wächter, der über Hueys Schultern schwebte oder in seinem Schatten schritt und immer bereit war, sich zu offenbaren, wenn es notwendig war. Doch Joey hatte auch etwas Rotes an sich, einen harten, kleinen Kern, der mit dunkler Tinte gefüllt war und manchmal platzte und das Weiß überflutete und allmählich ganz überschwemmte. Wenn sich Joey rot färbte, passierten schlimme Dinge, oder es war gerade etwas Schlimmes passiert oder es kam auf sie zu. Wenn sich Joey rot färbte, musste Huey Dinge tun, die ihm nicht gefielen. Wenn er es jedoch tat, verschwand das Rot wieder wie Blut auf einem Hemd, das man in die Waschmaschine steckt.
Manchmal konnte er gar keine Farben sehen. Es war so eine Tönung zwischen Braun und Schwarz (Unfarbe, nannte er es), die am Rande aller Dinge lauerte wie Nebel, bereit, die Welt zu verhüllen. Sie erschien, wenn er in einer Schlange stand, um sich einen Hamburger zu bestellen, und die Leute hinter sich flüstern hörte, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er nehmen sollte. Der Verkäufer schien in der Mitte seines Blickfeldes
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