24 Stunden
du mich jetzt erschießt, ist deine Tochter mausetot. Gib mir das Telefon!«
»Bleiben Sie stehen!«
Hickey schlug ihre Hand mit der Waffe zur Seite, verpasste ihr eine Ohrfeige und riss ihr das Telefon aus der Hand.
»Huey? Hier ist Joey. Wenn du einen Schuss hörst, erwürgst du das Gör. Dann brauchst du mir keine Fragen mehr zu stellen, weil ich dann tot bin. Diese Schlampe hat mich verletzt. Sie wollte mich umbringen.«
Hickeys Gesichtszüge verhärteten sich, als er seinem Cousin zuhörte. »Du verdammter Schwachkopf! Ich gebe die Befehle, und du befolgst sie. Basta.« Hickey umklammerte Karens Handgelenk und drückte so fest, dass sie die Hand öffnete und die Waffe fallen ließ. Er bückte sich und hob sie auf. »Fessle und kneble das Kind, Huey. Ich ruf wieder an.«
Keine Sekunde später stürzte sich Karen auf ihn. Sie fuhr ihre Krallen aus, als wollte sie ihm die Augen auskratzen, doch ehe sie dazu kam, schlug er ihr ins Gesicht und die Faust in den Magen. Sie fiel keuchend zu Boden. Als sie dort lag und nach Luft schnappte, nahm er das Telefon, an dessen anderem Ende Will wartete.
»Huey hat gerade Ihre Tochter gefunden, Doktor«, sagte er wütend. »Ich hoffe, Sie haben noch mit niemandem gesprochen, denn sonst wird Abby nie mehr die Schulbank drücken... Beruhigen Sie sich. Ich hab keine Lust, mir Ihr Geschrei anzuhören. Ich hoffe nur, dass die Wildkatze, die Sie geheiratet haben, ihre Lektion gelernt hat.«
»Bitte«, stammelte Karen, die sich mühsam hinkniete. »Bitte, er soll sie nicht fesseln und schlagen. Sie...«
»Halt die Klappe.« Hickey hängte auf. »Und näh mir jetzt endlich mein verdammtes Bein.«
Karen hob den Blick. Sie keuchte wie ein erschöpfter Läufer. Vor ihren Augen tanzten winzige Sterne.
»Du bist in meiner Gewalt«, sagte er ganz ruhig. »Hast du das jetzt kapiert?«
»Ich möchte nur, dass meiner Kleinen nichts passiert. Egal, was es kostet.«
»Das ist eine gute Antwort. Alles hübsch der Reihe nach.« Er zeigte auf sein aufgeschlitztes Bein. »An die Arbeit.«
Karen versuchte, ihre Sorge um Abby zu verdrängen. Solange sie an ihre Kleine dachte, war sie machtlos, wie gelähmt. Sie stützte sich auf dem Bett ab und richtete sich auf. Dann öffnete sie Wills Arztkoffer.
»Keine Spritze«, sagte Hickey, als sie eine Flasche Lidocain und eine Spritze aus der Tasche nahm. »Ich trau dir nicht über den Weg.«
»Ist mir recht. Vierzig Stiche ohne Betäubung. Die Schmerzen werden kaum auszuhalten sein.«
Hickey lachte. »Das wird dir sicher Spaß machen. Aber keine Sorge, Schätzchen. Ich werde mich für jeden Stich rächen.«
11
Huey wankte mit Abby auf dem Arm durch die Dunkelheit. Er hatte Angst. Die Unfarbe war jetzt überall. Sie setzte an den Rändern seines Blickfeldes an und überflutete alles. Nur das erleuchtete Fenster der Hütte wirbelte durch die Dunkelheit. Abby schrie unaufhörlich und so laut, dass er sich fragte, ob sie überhaupt noch Luft bekam. Er hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, doch das ging nicht, weil er Abby auf dem Arm hatte.
Ihre Schreie waren wie Wasser, das er durchqueren musste. Die Angst, die er heraushörte, glich der Angst, die er als kleiner Junge gehabt hatte. Diese angsterfüllten Schreie lösten in seiner Brust Schwingungen aus, als schlüge jemand mit einem Hammer gegen eine Glocke. Joey hatte gesagt, er solle sie fesseln, aber Huey wollte sie nicht fesseln. Joey hatte gesagt, er solle sie erwürgen, wenn er einen Schuss hörte, aber Huey dankte Gott, dass er keinen gehört hatte.
Er könnte Abby nur wehtun, wenn er über ihrem Gesicht ein anderes Gesicht sehen würde, das Gesicht eines anderen Mädchens. Ein großes Mädchen war einst mit ihm in den Wald gegangen. Dort hatte es ihm etwas gezeigt und dann gesagt, er solle seine Hose herunterziehen. Als er das gemacht hatte, schrie sie ganz laut, und dann kamen ein Dutzend Jungen aus dem Wald gerannt und lachten ihn aus und verspotteten ihn. Diesem Mädchen hätte er am liebsten wie einem Huhn den Hals umgedreht.
Huey war in seinem Leben noch nie so durcheinander gewesen, aber eines wusste er: Ohne Joey konnte er nicht leben. Das Leben, das er früher ohne Joey geführt hatte, war wie ein furchtbarer Schleier, und der Gedanke, ohne ihn zu leben, kam ihm gar nicht in den Sinn. Wesen wie Abby waren wie Lichter in der Dunkelheit, aber er konnte sie nie festhalten. Im Grunde war Joey alles, was er hatte.
Es war nach Mitternacht, und das viktorianische Haus der
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