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244 - Der dunkle Traum

244 - Der dunkle Traum

Titel: 244 - Der dunkle Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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älter wurde, fragte ich mich, ob nicht etwas anderes dahinter steckte als Lieblosigkeit. Ich wollte, dass man sie sucht. Mein Ansinnen wurde von der Bunkerführung abgelehnt. Ich schrieb meinem Vater einen Abschiedsbrief und machte mich davon, reiste und suchte. Ich machte mir die Technik zunutze und fand endlich eine Spur, quer durch Frankreich und den Rhein hinab bis nach Coellen. Dort, beim Schwarzen Dom, fand ich sie… tot.« Rulfan hielt für einen Moment inne, in dem ihn die Erinnerung zu überwältigen drohte. Dann fuhr er fort: »Sie waren in die Fänge einer Sekte geraten, die unter dem Einfluss eines Daa’murenkristalls das Volk unterjochte. Ich schloss mich dem Widerstand an und bekämpfte die Scheußlichen Drei. Doch erst die Ankunft eines Mannes namens Matthew Drax und seiner Gefährtin Aruula, die ebenfalls von der Sekte entführt wurde, brachte die Wende und den Sieg. [4] Ich blieb in Coellen; es wurde mir zur zweiten Heimat.«
    Aldous schwieg. Stattdessen paffte er, bis Rulfan sein Gesicht hinter dem Qualm nicht mehr sehen konnte. Winda, die sich zwischen die Männer gelegt hatte, hob den Schädel und hustete demonstrativ.
    Rulfan fuhr fort: »Nehme ich Mutter übel, dass sie mich verließ? Nein! Das tue ich nicht. Nicht mehr…« Instinktiv griff er zu dem Medaillon, das er um den Hals trug. Aufgeklappt zeigte es das Zeichen der Lupa, einen aus Elfenbein gearbeiteten Wolfskopf auf schwarzem Achatgrund. Es war das Familienwappen des Stammes der Reesa. Es hatte seiner Mutter gehört.
    »Nimmst du dir übel, dass du sie nicht retten konntest?«, ließ sich Aldous durch den Tabakqualm vernehmen.
    »Ja!«, hauchte Rulfan. »Ja! Das nehme ich mir übel. Wäre ich nur ein paar Tage früher aufgebrochen, könnten meine Mutter und meine Schwester noch leben…«
    Es wurde kühler. Die Männer zogen unwillkürlich die Decken über ihre Schultern. Dann herrschte Stille. Sogar der nun schon weiter entfernte Dschungel schien sich für einen Augenblick zur Ruhe begeben zu haben.
    Rulfan brach das Schweigen: »Aber ich büßte. Ich wurde Galeerensträfling. Ich war Sklave auf den Meera-Inseln. Ich schuftete in den Bergwerken von Kreeta. Ich stand sogar unter dem Einfluss der Daa’muren und brachte einen treuen Freund um, einen Lupa. Ja, ich büßte…«
    »Es gibt kein tiefer empfundenes Gefühl als Selbstmitleid«, ließ sich Aldous vernehmen. »Dennoch solltest du darauf verzichten, mein Freund!«
    »Aber was bin ich denn? Doch nicht mehr als ein winziges Insekt in einer zerstörten Welt, die vor fünfhundert Jahren unterging!«
    Aldous ließ sich mit seiner Antwort eine Weile Zeit. Er klopfte seine Pfeife aus, nahm einen Schluck Wasser. Dann sagte er: »Die Erde ist nicht untergegangen, Rulfan. Sie lebt weiter. Canyons und Flüsse, Wälder und Steppen, Meere und Seen, Himmel und Wind – alles ist so, wie es von je her war. Untergegangen ist nur die Menschheit. Alles geschieht in einem ewigen Kreislauf. Das, was uns wie die Apokalypse erscheint, ist nur ein Blinzeln im Ablauf der Zeitgeschichte.«
    »Und welche Aufgabe hat der Mensch darin?«
    »Nach Wahrhaftigkeit und Moral zu streben und gegen das Unrecht anzukämpfen«, entgegnete Aldous, als lägen die Antworten auf alle Fragen in ihm verborgen.
    … gegen das Unrecht anzukämpfen, hallte es in Rulfan nach. Erneut schlug eine Saite in ihm an. Ihm war, als kenne er die folgenden Worte schon.
    »Und ist es nicht Unrecht, dass Daa’tan und Grao noch leben?«, fragte Aldous.
    »Ja, das ist es! Sie müssen getötet werden«, hörte Rulfan sich sagen. Wieder einmal.
    »Ja, das müssen sie!«
    »Wann wird es geschehen? Wann werden wir sie töten?« Rulfan erzitterte. Er blinzelte das Déjà vu weg. Atmete tief ein, wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Er schwitzte, wie er feststellte, obwohl der Wind, der aus der Ebene kam, auffrischte.
    »So bald du willst, Rulfan. Wir haben noch etwas über hundert Kilometer bis zur Wolkenstadt am Victoriasee vor uns. Da wir uns entschieden haben, zu Fuß zu gehen, benötigen wir dafür, wenn alles gut geht, noch vier bis fünf Tage.«
    »Dann sollten wir jetzt neue Kräfte schöpfen und schlafen«, entgegnete Rulfan. Er fühlte sich schwach und müde. Er war es nicht gewohnt, über sich und sein Leben zu sprechen – genau genommen hatte er das noch nie getan.
    »Ja…«, bestätigte Aldous. »Begeben wir uns zur Ruhe, mein Freund! Schlafe du zuerst. Ich bewache das Feuer.«
    ***
    Rulfan erwachte vor Sonnenaufgang.

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