2492 - KOLTOROC
Verstand!
Inkadye erhob sich langsam. Ihr Körper fühlte sich völlig frisch an, ausgeruht, als hätte sie zehn Stunden und keine zehntausend Jahre geschlafen. Geschmeidig trat sie vor einen Spiegel und betrachtete ihr Bild darin. Sie schien um keine Sekunde gealtert zu sein.
Sie verspürte etwas Durst und nur leichten Hunger. Auf die Toilette musste sie, aber nicht sehr dringend. Es konnte warten. Wichtiger war herauszufinden, wieso sie erwacht war.
Zehntausend Jahre, dachte sie, als sie die Kabine verließ. Hätte ich sie bei
Bewusstsein in Einsamkeit verbracht, hätte ich unweigerlich den Verstand verloren.
Ihr Ziel war die Zentrale der Lichtstadt. Sie spürte, dass sich Koltoroc dort manifestiert hatte. Und dass er gerade einen ersten Wendepunkt in seiner Entstehung erlebte, auch wenn sie nicht einmal ahnen konnte, welchen.
Sie schritt immer schneller aus, hastete schließlich geradezu. Nicht nur um herauszufinden, was die Wesenheit dort trieb, gestand sie sich ein, sondern auch, um der Einsamkeit zu entkommen ... oder um irgendwie zu verhindern, dass sie noch einmal zehntausend Jahre oder noch länger schlief.
Aber wie? Nichts hatte sich geändert. Sie war Koltoroc noch immer wehrlos ausgeliefert.
Doch sie hatte den Eindruck, dass er unaufmerksam zu sein schien. Bemerkte er möglicherweise nicht, dass seine Gefangene sich näherte?
Inkadye blieb abrupt stehen. Das ist die Chance, auf die du wartest! Die Gelegenheit, einen Notruf abzusetzen oder ein Beiboot zu kapern! Koltoroc hat dich aus seinem Fokus verloren!
Sie setzte sich wieder in Bewegung, rannte nun, bis die Luft in ihren Lungen brannte. Du bist dumm!, schrie es in ihr. Du lässt die Chance ungenutzt verstreichen!
Doch sie konnte der Verlockung nicht widerstehen. Irgendetwas geschah mit Koltoroc, und sie musste herausfinden, was.
Das Schott öffnete sich vor ihr, und Inkadye sah sofort die dunkle, dräuende Wolke in der Mitte des Raums. Das rein mentale Feld, das Koltoroc war ...
Es schien sich zu verfestigen, sich zu einer Kontur zu verdichten, die ihr fast materiell vorkam. Fassungslos beobachtete die Sorgorin, wie sich aus der nebelartigen Substanz tatsächlich ein Korpus bildete, ein ungeschlachter, aufgeblähter Brustkorb, der sich rasend schnell hob und senkte. Gliedmaßen wuchsen aus ihm, hier ein Arm, dort ein Bein, an noch anderer Stelle ein Kopf, aber scheinbar wahllos und ohne sich zu einem gesamten Bild zu fügen. Ein Bein entspross dem Leib neben einem Arm, wanderte auf der Suche nach seinem Gegenstück über den Körper, fand es nicht, während der noch gesichtslose Kopf zu dem zweiten Arm kroch.
Inkadye fiel der paritätische Dualismus auf. Zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf, aber ungeordnet, nicht nach den Maßstäben der aufstrebenden Humanoiden als symmetrische Spiegelung angeordnet. Und ... nicht einmal ähnlich. Das eine Bein war hell, lang und schmal, das andere gedrungen, kurz und dunkel.
In der Symmetrie liegt das, was die Humanoiden als »schön« erachten, dachte sie.
Dieser Körper war einfach nur hässlich. Verzerrt, missgestaltet.
Sie hörte einen gellenden, gequälten Schrei in ihrem Verstand. Nicht das ewige Klagen der Imagini im Hintergrund, er stammte vielmehr von Koltoroc selbst, der Schmerzen litt, der sich verwandelte.
Sie wimmerte leise auf, als sie spürte, dass der Fokus der Entität sich plötzlich auf sie richtete, das Wesen sie bemerkte und Zorn, ja sogar Hass in ihm aufbrandete.
Ich bin ihm hilflos ausgeliefert, dachte sie. Koltoroc könnte mich mit einem einzigen Gedanken töten!
Doch die Wesenheit verschonte sie, verjagte sie nicht einmal, was das Einfachste gewesen wäre, sondern blendete mit einem mentalen Impuls ihren Gesichtssinn aus.
Wollte Koltoroc sich schützen? Wollte er verhindern, dass sie sah, was hier geschah? Oder ...
Wollte er sie nur quälen? Spürte er ihre Wissbegier, den Drang, herauszufinden, was mit ihrer Schöpfung geschah? Wollte er ihr ihre Grenzen aufzeigen? Ihr klarmachen, dass sie noch immer sein Spielball war?
Ja, genau das! Denn Sekunden später roch Inkadye etwas, das zweifellos organisch war. Die Ausdünstungen eines Körpers, und zwar aus der Richtung, in der sie eben noch die Wolke wahrgenommen hatte.
Wenn es Schweiß war, war es der strengste, den sie jemals gerochen hatte.
Aber es war mehr als das. Es war etwas Ursprüngliches, Archaisches. Es war der Gestank entstehenden Lebens, sich bildender Körperlichkeit, der nur noch abstoßend für diejenigen
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