Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
25 - Ardistan und Dschinnistan II

25 - Ardistan und Dschinnistan II

Titel: 25 - Ardistan und Dschinnistan II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
Beratung teilzunehmen. Über der Tür dieses andern Saals stehen die Worte ‚Dschema der Lebenden‘. Dort saßen Menschen, die noch lebten, zu Gericht, Menschen, die mein Vater kannte; er hat mir sogar ihre Namen genannt. Zu diesen Lebenden gesellten sich einige der Toten aus dem vorigen Saal, vor allen Dingen der Vater meines Vaters und der alte, berühmte Maha-Lama Abu Schalem, welcher auch hier den Vorsitz führte.“
    „Und wie verlief die Verhandlung?“ fragte ich, um die Erzählung möglichst abzukürzen.
    „Zunächst wurde ein Sarg geöffnet, in dem mein Vater als Toter lag. Man sagte ihm, das sei seine bisherige Leiche. Er könne sie und alle seine Vorfahren erlösen, indem er alle ihre Sünden und alle ihre Schuld auf sich allein nehme und derart sühne, wie sie begangen worden sind. Hierauf wurde ihm der ganze Inhalt des großen Schuldbuchs, welches der Maha-Lama Abu Schalem mit hereingebracht hatte, vorgelesen, und dann fragte man ihn, ob er seine Ahnen erlösen und alle diese Sünden, diese Kriege und dieses Blutvergießen von ihnen weg und auf sich nehmen wolle. Tue er es, so seien ihre Seelen sofort frei und die seinige, sobald er gesühnt habe, auch. Tue er es aber nicht, so bleiben ihre Seelen gefesselt wie bisher, und er selbst könne nicht eher sterben und auch nicht eher begraben werden, als bis ein späterer Mir von Ardistan so kühn und opferfreudig sei, sie alle zu erlösen.“
    „Und welchen Bescheid gab dein Vater?“ fragte ich.
    „Denselben, den seine sämtlichen Vorfahren auch gegeben hatten. Er sagte, daß er keine Lust habe, Schulden zu bezahlen, die er nicht gemacht habe, und gewiß auch nicht berufen sei, Ahnen zu erlösen, die genau ebenso keine Lust gehabt hatten, die ihrigen zu erretten. Ein jeder sühne seine eigene Schuld, wenn es überhaupt nach dem Tod ein ferneres Leben gebe!“
    „Was geschah, als er diesen Bescheid gegeben hatte?“
    „Man steckte ihn wieder in die köstliche Sänfte und trug ihn fort. Als er erwachte, lag er daheim in seiner Schlafstube auf seinen Kissen. Er hatte geträumt.“
    „Wirklich geträumt?“
    „Ja. Aber sonderbar! Er hatte volle sechs Tage lang auf seinem Bett gelegen und geschlafen, ohne ein einziges Mal aufzuwachen.“
    „War man nicht besorgt um ihn geworden?“
    „Nein. Man erfuhr es gar nicht. Die Leibwache nahm sich des Geheimnisses an und sorgte dafür, daß niemand etwas davon erfuhr, nicht einmal ich, bis er es mir selbst erzählte.“
    „Und nun erzählst du es mir. Warum?“
    „Weil seit gestern mich alles an diesen Traum erinnert. Jeder Mir von Ardistan hat ihn geträumt, genauso wie mein Vater; ich wiederhole das. An jeden wurde dieselbe Frage gestellt, und jeder hat ganz dieselbe Antwort gegeben. Es ist also kein gewöhnlicher Traum. Es steht irgendeine Wahrheit mit ihm in Verbindung die niemand noch ergründen konnte. Nun denke dir, daß es hier auch eine ‚Dschema der Toten‘ und eine ‚Dschema der Lebenden‘ gibt! Kannst du dir nicht denken, daß der Gedanke an diesen Traum mich außerordentlich beschäftigt?“
    „Oh, das kann ich sehr wohl begreifen. Ich denke da sogar noch an ganz andere Dinge als du. Aber du hast mir dein Vertrauen doch wohl nur aus gewissen Gründen und in einer gewissen Absicht geschenkt. Darf ich sie erfahren?“
    „Selbstverständlich! Du sollst mir beistehen, sollst mich unterstützen! Sollst nicht von mir weichen, wenn die Reihe nun vielleicht hier an mich kommt. Ich befürchte, daß der Traum mich nicht daheim, sondern hier überrascht. Wenn es geschieht, so wünsche ich, daß es verschwiegen bleibe, daß es nicht hinausgetragen wird in die Öffentlichkeit, Mir ist zumute wie einem Menschen, welcher fühlt, daß sich ihm eine schwere Krankheit naht. Er wendet sich schon vorher an den Arzt und spricht die Bitte aus, ihm beizustehen. Wie man dem Arzt vertraut, so vertraue ich dir. Du wirst das, was geschieht, in solche Wege lenken, die mir heilsam sind.“
    „Nicht nur dir, sondern auch deinem Land, deinem ganzen Volk, vorausgesetzt, daß es mir möglich ist, überhaupt mit einzugreifen. Ich will dir aufrichtig sagen, daß ich dasselbe ahne wie du. Ja, ich ahne es nicht bloß, sondern ich bin überzeugt, daß du die Stelle des einstigen Maha-Lama-Sees nicht verlassen wirst, ohne den Traum deiner Väter auch geträumt zu haben. Bei keinem von ihnen allen ist die Notwendigkeit dieses Traums so zwingend gewesen wie jetzt bei dir. Er muß kommen, und er wird kommen. Die einzige Frage,

Weitere Kostenlose Bücher