25 - Ardistan und Dschinnistan II
mit ganz genau denselben Zeiten, Örtlichkeiten, Situationen, Personen, Worten und Taten.“
„Das ist unmöglich, vollständig unmöglich!“
„Nein, denn es ist wirklich!“
„Beweis!“
„Es geschah und geschieht noch jetzt in meiner Familie!“
„Dann handelt es sich unbedingt um eine Täuschung nicht aber um eine erwiesene Wirklichkeit!“
„Sie ist erwiesen! Ich bitte dich, mir zu glauben! Solange Ardistan von meinen Vorfahren regiert wird, gibt es einen Traum, einen ganz gewissen und ganz bestimmten Traum, den sie alle, alle geträumt haben, vom ersten bis zum letzten Herrscher, nicht einen einzigen ausgenommen. Mein Vater war der letzte, der ihn träumte.“
„Wovon träumten sie?“
„Von einer ‚Dschema der Lebendigen‘ und einer ‚Dschema der Toten‘.“
„Ah! Sonderbar!“
„Nicht wahr? Mein Vater hat mir diesen Traum ganz genau erzählt, ebenso genau, wie er ihm von meinem Großvater erzählt worden war und wie ich ihn wahrscheinlich meinem ältesten Sohne erzählen werde.“
„Hast auch du ihn schon geträumt?“
„Noch nicht. Aber ich weiß, daß ich ihm nicht entgehen werde.“
„Du fürchtest dich vor ihm?“
„Gewiß, ja! Ein jeder hat sich bisher vor ihm gefürchtet; aber sobald er überstanden war, hörte diese Angst auf, denn noch niemals hat sich die furchtbare Drohung erfüllt, welche dem Träumenden von dem Traum mitgegeben wurde.“
„Welche Drohung?“
„Daß er nicht eher sterben könne und auch nicht eher begraben werde, als bis sich endlich einmal ein reuiger und mutiger Mir von Ardistan finden werde, der bereit ist, die Schuld und die Missetaten aller seiner Ahnen auf sich zu nehmen und derart zu sühnen, wie sie begangen worden sind.“
„Jetzt sprichst du von den Missetaten deiner Ahnen, und noch soeben erst hast du mich ermahnt, ja nicht etwa zu denken, daß du mir böse Taten oder Verbrechen von ihnen zu gestehen habest!“
„Ganz richtig! Gestehe ich dir etwa welche? Ich erzähle dir nur, daß im Traum die Rede von ihnen ist, aber ich nenne keine; ich zähle sie dir nicht auf.“
„Aber den Traum willst du mir erzählen?“
„Ja. Höre mir zu! Der Mir träumt nämlich, er sitze in einer uralten, aber sehr schönen Sänfte, wie es sie vor mehreren tausend Jahren gab, und wird erst über einen großen, runden Platz und dann durch viele, nur mühsam erleuchtete Zimmer getragen, bis man in einen großen Saal gelangt, über dessen Tür die Worte ‚Dschema der Toten‘ zu lesen sind. In diesem Saal sitzen alle Maha-Lamas und alle Emire von Ardistan, die es gegeben hat. Aber die Emire, die im Leben hoch über den Maha-Lamas gestanden haben, stehen jetzt im Tod tief, tief unter ihnen. Sie sind gefangen, an Händen und Füßen gefesselt und sollen gerichtet werden. Sie haben ihr Urteil zu erwarten. Die Maha-Lamas aber sind frei. Sie bilden die Richter, die das Urteil zu sprechen haben. An ihrer Spitze sitzt der berühmteste, gerechteste und gütigste von ihnen, nämlich Abu Schalem, der Maha-Lama der den Maha-Lama-See ausgetrocknet und da, wo einst Wasser war, diese riesenhaften, wohltätigen Gebäude errichtet hat. Vor ihm liegt das Schuldbuch sämtlicher Emire, das Schuldbuch des ganzen Geschlechts. Vor jedem der gefesselten Emire liegt ein besonderer Kontoauszug aus diesem Buch. Der Inhalt dieses Buchs und dieser Auszüge bezieht sich nicht allein auf die rein menschlichen Sünden, die begangen worden sind, sondern vor allen Dingen und ganz besonders auf die Vergehungen und Unterlassungen, die sich die Angeklagten als Herrscher zuschulden kommen ließen. Die Haupt- und schwerste Frage aber ist, ob sie das Leben ihrer Mitmenschen geachtet haben oder nicht. Am unerbittlichsten wird der Mord bestraft, der Mord einzelner und der Massenmord im Krieg. Für den Anstifter eines Kriegs ist der Dschema kein Erbarmen erlaubt. Das kann nur der höchste Richter, nur Gott allein verzeihen!“
Er machte hier eine Pause, wie um nachzudenken, und fuhr dann fort:
„Das sind die Toten, und doch sind sie nicht tot. Ihr Fleisch ist warm und weich. Sie können sehen und hören. Sie können sprechen. Sie stehen auf; sie gehen fort, und sie kommen wieder, ganz wie die Lebenden –“
„Allerdings im Traum!“ fiel ich ein.
„Ja, im Traum! Mein Vater hat es mir erzählt. Er hat sich alles genau angesehen. Auch sein Vater war da, der vor mehreren Jahren Verstorbene. Er war wie lebend. Er verließ seinen Sitz und ging mit in den andern Saal, um an der dortigen
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