25 - Ardistan und Dschinnistan II
Die in der Mittelabteilung Versammelten saßen alle auf ihren Plätzen, doch lagen diese Plätze nicht in gleicher Ebene. Am höchsten saß der Vorsitzende, fast wie auf einem Thron. Vor ihm stand ein Tisch, welcher die Form von zwei, die Platte tragenden Amdschaspands (altpersische Engel) hatte. Auf diesem Tisch lag ein Buch, wahrscheinlich das im Traum erwähnte Hauptschuldbuch der sämtlichen Emire von Ardistan. Abu Schalem war in ein sehr bescheidenes, ungebleichtes Hanfgewebe gekleidet, hatte Strohsandalen an den Füßen und trug auf dem Kopf nicht die wohlbekannte, häßliche Lamamütze, sondern ein ebenso einfaches, weißes Tuch, unter dem das silberglänzende Stirnhaar nicht etwa mongolisch schlicht, sondern in krausen Wellen hervorgebrochen und dann im Tod weitergewachsen war. Es hatte sich in der Mitte geteilt und hing in zwei geflochtenen Strähnen bis auf den Gürtel nieder. Auch der Bart war stark und besaß denselben silbernen Glanz. Er wallte über Brust und Leib herab, bis er unter dem Tisch verschwand. Auch die Gesichtszüge waren nicht mongolisch, sondern so, wie man sich die alten Perser denkt. Ich habe einmal ein Gemälde gesehen, welches Kyros den Großen darstellte, in der Vollkraft des ersten Mannesalters und auf der Höhe seines Ruhms. Als ich nun jetzt vor dem berühmtesten, gerechtesten und gütigsten der Maha-Lamas stand und seinen herrlichen Kopf auf mich wirken ließ, hätte ich in die Worte ausbrechen mögen: „Das sind die Züge des großen Perserkönigs! So, genauso würde er ausgesehen haben, wenn er das Alter erreicht hätte, in dem dieser Maha-Lama gestorben ist!“
Ich stieg zu ihm hinauf und betastete seine Hände, seine Wangen. Sie waren kühl und weich. Ich erstreckte diese Untersuchung auch auf die Arme, auf die Beine, auf den Leib. Fast kam mir das wie eine Entweihung, wie eine Beleidigung vor. Es war mir, als ob ich das eigentlich gar nicht wagen dürfe, und es wallte in mir wie eine Bitte der Verzeihung auf, daß ich, das kleine Menschlein, mich für berechtigt hielt, den Gedanken nachzuspüren, die einst von diesem Körper ausgegangen waren. Die Augen bestanden aus drei verschiedenen Steinen, welche die bläulich weiße Hornhaut, die blauschwarze Iris und die kohlschwarze und doch durchsichtige Pupille bildete. Die Zusammensetzung und der Schliff dieser Steine waren so vorzüglich gelungen, daß man glauben konnte, wirkliche Augen zu sehen, wenn man nicht gewußt hätte, daß man vor dem präparierten Körper eines längst Verstorbenen stand. Der Blick dieser Augen war hinunter auf die Anklagebank gerichtet, also nicht auf mich, dennoch aber hatte ich den Eindruck, als ob hinter ihnen ein volles, seelisches Leben tätig sei. Das verstärkte die rücksichtsvolle Scheu, mit der ich den Körper des Vorsitzenden der Dschema untersuchte.
Rechts und links von ihm, doch einige Fuß tiefer, saßen die andern Maha-Lamas an ebenso orientalisch niedrigen Einzeltischen, die aber so nahe aneinander standen, daß sie zu beiden Seiten je eine viertelkreisförmige Tafel zu bilden schienen. Diese Toten stellten also einen Halbkreis dar, über dessen Halbierungspunkt der Oberrichter thronte. Sie waren genauso einfach und anspruchslos gekleidet wie er, einige von ihnen sogar noch ärmer, und lenkten ihre Blicke in dieselbe Richtung wie er die seinigen. Es waren das nicht alle Maha-Lamas, die es gegeben hatte, sondern nur die bedeutendsten von ihnen, lauter in hohem Alter gestorbene Männer, deren stumpf oder glänzend schneeige Kopf- und Barthaare auch im Tod nachgewachsen und dann in Zöpfe geflochten waren. Die Wirkung welche dieser eigenartige Kriminalsenat auf mich machte, kann nicht beschrieben werden. Fast möchte ich sagen, sie war faszinierend. Diese Gestalten schienen keineswegs Leichen zu sein. Man fühlte sich versucht, anzunehmen, daß einst zur Zeit, als es noch Elfen, Feen und Zauberer gab, hier eine hochwichtige Dschema abgehalten und von einem wunderkräftigen Magier überrascht und hypnotisiert worden sei. Es war, als ob ein jeder von diesen Richtern sich plötzlich erheben könne, um sich zu bewegen und laut zu sprechen. Unterstützt wurde diese Imagination durch die gänzliche Abwesenheit jeden Leichengeruchs. Die Luft war so rein, als ob sie keinen Augenblick lang nicht erneuert worden sei.
Und noch tiefer saßen, als Inquisiten und arme Sünder, die sämtlichen Emire von Ardistan, die es gegeben hatte; es fehlte keiner von ihnen. Und doch saßen sie höher als ihre
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